Ende Oktober 1922 machten sich zehntausende "Schwarzhemden", Anhänger Benito Mussolinis, nach Rom auf, um in der italienischen Hauptstadt nach der Macht zu greifen. Als entscheidende Wegmarke bei der Errichtung der faschistischen Diktatur nahm sich Adolf Hitler den "Marsch auf Rom" zum Vorbild. Heute, einhundert Jahre später, ist der Faschismus nach dem Wahlerfolg der "Fratelli d'Italia" in Italien wieder in aller Munde. Der Historiker Daniele Toro (Universität Bielefeld) untersucht in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekt transnationale faschistische Netzwerke zwischen Italien, Deutschland und Österreich in der Zwischenkriegszeit. Im Interview sprechen wir mit ihm über die "Vorbildfunktion" des italienischen Faschismus, dessen mangelnde Aufarbeitung und den Wahlsieg Giorgia Melonis.
"Viel mehr Gegenseitigkeit als häufig vermutet"
L.I.S.A.: Herr Toro, in Ihrem Dissertationsprojekt setzen Sie sich mit den transnationalen faschistischen Netzwerken in der Zwischenkriegszeit auseinander. Häufig wird der italienische Faschismus in seiner Funktion als „Modell“ oder „Vorbild“ für den deutschen Nationalsozialismus charakterisiert. Sie beschreiben das Verhältnis der Bewegungen hingegen als Netz „dunkler Verflechtungen“. Wie sahen diese Netzwerke aus? Muss die Vorstellung von der Modellhaftigkeit des italienischen Faschismus infragegestellt oder zumindest akzentuiert werden?
Daniele Toro: Die grenzübergreifende Vorbildfunktion des italienischen Faschismus ist unübersehbar. Die transnationale und globale Faschismusforschung hat in den letzten Jahrzehnten die Wirkmächtigkeit des italienischen Falls weit über die europäischen Grenzen hinweg überzeugend nachgewiesen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bieten Einfluss und Rezeption des italienischen Faschismus durch die NSDAP nach wie vor einen der bedeutendsten Fälle, um die Folgen dieses Vorbilds in ihrem vollen Ausmaß zu untersuchen. Zugleich suggeriert aber die Idee einer Modellhaftigkeit des italienischen Faschismus eine gewisse Unidirektionalität in der grenzübergreifenden Interaktion, denn sie beschreibt einen Einfluss, der von Italien ausgehend Anhänger*innen und gleichgesinnte Formationen europa- und weltweit erfasste. Die nicht-italienische Seite dieser Rekonstruktionen erscheint dadurch als einfacher Empfänger oder Vektor eines Transfers, der meist keinen offenkundigen Einfluss auf die Gegenseite ausübt.
Zugleich zeigt die Betrachtung der informellen, nur teilweise institutionalisierten Beziehungen zwischen Akteur*innen aus den jeweiligen Organisationen, dass viel mehr Gegenseitigkeit in diesen Prozessen steckte als häufig vermutet, und dass der Vorbildcharakter des italienischen Faschismus zwar als wichtiger, aber nicht alleiniger Faktor die radikalnationalistischen Verflechtungsprozesse im Europa der Zwischenkriegszeit bis 1933 prägte. In meinem Projekt nehme ich neben Mussolinis Partei vornehmlich die NSDAP und den „Stahlhelm“ in Deutschland sowie die österreichischen Heimwehren unter die Lupe. Konkreter gesagt: Es geht nicht nur um die Frage, welchen Einfluss der italienische Faschismus auf das deutsche und österreichische radikalnationalistische Milieu ausübte, sondern vielmehr um die Erforschung der gegenseitigen Bezugnahme, Relationierung und Beeinflussung im dreifachen Beziehungsgeflecht.