L.I.S.A.: In der deutschen Berichterstattung über den Ausgang der italienischen Parlamentswahlen war oft von der Wiederkehr des Faschismus die Rede. Ist die Verwendung des Faschismus-Begriffs aus Ihrer Sicht gerechtfertigt? Lassen sich Parallelen zwischen der Bewegung Benito Mussolinis und den Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni ziehen? Wie verhält sich die Bewegung selbst zu dieser Tradition?
Daniele Toro: Die Verwendung des „Faschismus“-Begriffs lässt sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zur Beschreibung der aktuellen italienischen Verhältnisse nicht rechtfertigen. Zugleich besitzen in demokratischen, pluralistischen Gesellschaften Geistes- und Sozialwissenschaften kein Monopol über die mehr oder weniger angebrachte Anwendung politisch aufgeladener Begrifflichkeiten. „Faschismus“ ist – nicht nur, aber besonders in Italien – ein spannungs- und konfliktgeladener Begriff. Seine Anwendung als Kampfbegriff weist auf eine Geschichte hin, die weit in die Zwischenkriegszeit zurückgeht. Seine vermehrte Anwendung im öffentlichen Diskurs seit 1945 ließe sich als Lackmustest soziopolitischer Spannungen nutzen – sei es im Fall eines Erstarkens der (extremen) Rechten, sei es bei einer zunehmenden Polarisierung zwischen den politischen Lagern.
Aus aktueller Sicht fehlen der neugewählten italienischen Regierung und ihrer Mehrheitspartei Fratelli d’Italia (FdI), geschichtswissenschaftlich gesprochen, zentrale Merkmale des historischen Faschismus in der Phase der „Machterlangung“: eine systematische Anwendung politischer Gewalt; die materielle Einschüchterung, Erniedrigung und Zerrüttung politischer Gegner*innen und ihrer Parteistrukturen; eine offen feindliche Strategie gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung des Staates. All diese Merkmale lassen sich nicht beobachten.
Das alles macht aber Fratelli d‘Italia nicht weniger gefährlich für die italienische Demokratie. Die Positionierung der Partei zu gewalttätigen Ereignissen und ihre Kontakte zu gewaltbereiten Gruppierungen gestalten sich, gelinde gesagt, ambivalent. Investigative Untersuchungen haben überdies darauf hingewiesen, dass die Parteibasis und ihre lokalen Führungsfiguren keinen Hehl aus der eigenen neofaschistischen Weltanschauung machen und gerne in faschistische Symbolik, Begrüßungsformeln und -gesten verfallen.
Darüber hinaus hat Fratelli d’Italia ihre Positionierung hinsichtlich aktuell zentraler politischer Fragen und ihrer internationalen Sympathien schon sehr deutlich dargelegt. Jenseits der im Wahlkampf aufgegriffenen Bindung an NATO und Europäische Union erkennt Melonis Partei in Orbáns Ungarn und im PiS-regierten Polen wichtige Referenzgrößen. Dementsprechend hat sich ihre Agenda schon länger gestaltet: Sie vertritt einen rechtskonservativen und populistischen Nationalismus, der den Wunsch nach Wiederherstellung einer vermeintlich bedrohten nationalen Souveränität im außenpolitischen Bereich mit der Rückkehr zu traditionellen Werten in innenpolitischer Hinsicht verbindet. Offen bleibt meines Erachtens die Frage, wie sich Melonis Machtsystem gestalten wird, das heißt, welche Stabilität ihr Regierungsbündnis mit Berlusconis Forza Italia und Salvinis Lega aufweisen wird und inwieweit die freiheitlich demokratische Grundordnung der Italienischen Republik sich als belastbar erweisen wird.
Ein letztes und dennoch zentrales Element betrifft den Umgang von Fratelli d’Italia mit der eigenen (neo-)faschistischen Tradition. Selbstverständlich werden anlässlich des 100-jährigen Wiederkehrens des „Marsches auf Rom“ Fragen nach Parallelen und Vergleichen gestellt. Viel gewinnbringender wäre aber in meinen Augen die Frage nach Kontinuitäten, Veränderungen und politischen Genealogien. Diese waren schon vor dem Wahlkampf durch biographische, ideologische und symbolische Elemente deutlich erkennbar. Die 2012 gegründete Fratelli d’Italia versteht sich als Erbe der Alleanza nazionale (AN, 1995–2009), die ihrerseits als Nachfolgepartei des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI, 1946–1995) entstand. Letzterer sah sich seit seiner Gründung durch ehemalige Anführer des späten norditalienischen Regimes Mussolinis unter deutscher Besatzung (Repubblica Sociale Italiana, 1943–1945) als Wiedergeburt der faschistischen Bewegung im republikanischen Italien. Diese Genealogie lässt sich auch im politischen Werdegang zentraler Vertreter*innen von Fratelli d’Italia nachverfolgen. Symbolisch wird diese Kontinuität im Wandel auch durch die sogenannte „trikolore Flamme“ (fiamma tricolore) im Parteisymbol ausgedrückt, die seit ihrer Einführung durch den MSI für die Wiedergeburt der extremen Rechten nach der Niederlage 1945 steht. In der italienischen Erinnerungskultur, die seit der ersten Regierung Berlusconi im Jahr 1994 durch eine zunehmende Aufwertung des italienischen Faschismus belastet wird, sind auch symbolische Kontinuitäten dieser Art ein wirksames politisches Mittel.