Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (1/2021) widmet sich dem Begriff und Phänomen der Nostalgie. Als ein „modernes Unbehagen“ (so die Gastherausgeber Tobias Becker und Sabine Stach in ihrem Editorial) findet die Nostalgie in der Wissenschaft und der breiteren Öffentlichkeit immer wieder große Aufmerksamkeit, allerdings mit sehr unterschiedlichen Akzentuierungen. Nostalgie kann Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, Anachronismus oder Rückwärtsgewandtheit bedeuten. Meist dient der Begriff aber dazu, anderen einen Mangel an Gegenwartssinn und Zukunftsoffenheit zu bescheinigen oder ihnen gar eine Verklärung der Vergangenheit vorzuwerfen. Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und vor allem die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft. Diese hat bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt. Das Themenheft bringt Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammen und stellt dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vor. Dadurch soll es zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
Die bisherige Nostalgie-Forschung hat sich sehr stark auf den nordamerikanischen und europäischen Raum konzentriert. Insofern ist es programmatisch wichtig, dass Makoto Harris Takao in seinem Aufsatz nach der Bedeutung Japans für eine globale Geschichte der Emotionen fragt. Er kritisiert, dass die Forschung den Gegenstand „Nostalgie“ (und Emotionen im weiteren Sinne) oft mit verengten Konzepten und Begriffen betrachtet. Anglozentrische Vorstellungen von Nostalgie als Untersuchungsrahmen vernachlässigen, mit welchen Eigenheiten die japanische Sprache kulturelle Normen und Gefühlscodes kommuniziert und operationalisiert. Der Beitrag plädiert dafür, auf eine Globalgeschichte der Gefühle hinzuarbeiten, die multilaterale und mehrsprachige Interaktionen angemessen einbezieht.
Einen transnationalen Zugang wählt auch Stefan Berger, der die bislang meist auf lokaler oder nationaler Ebene betrachtete Verbindung von Deindustrialisierung und Nostalgie in einen globaleren Rahmen bringt. Er entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent, etwa in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas? Nostalgie sei nicht bloß als rückwärtsgewandt zu werten, sondern habe auch ein Potential für die Konstruktion von Zukunft. Für das postsozialistische Polen unterscheidet Joanna Wawrzyniak ausgehend von Oral-History-Interviews verschiedene Formen des nostalgischen Rückblicks auf politische und industrielle Transformationsprozesse. Ein charakteristisches Merkmal der populären Erinnerung ist die Uneindeutigkeit sowohl gegenüber dem Sozialismus als auch dem Kapitalismus. Auf politisch-institutioneller Ebene wurde der Nostalgie jedoch kaum die Chance gegeben, zu einem kritisch-produktiven Mechanismus für die heutige polnische Gesellschaft zu werden.
Im deutschen Fall ist Nostalgie wiederum von anderen Besonderheiten und Vorbehalten gekennzeichnet. Bereits in den 1970er-Jahren wurde Nostalgie in der Bundesrepublik zum Politikum, das (als Vorwurf) bis in Debatten des Deutschen Bundestages reichte – vor allem im Umfeld der sogenannten Hitler-Welle. Ihr geht Tobias Becker genauer nach. Erklärungsversuche wie „Nazi-Nostalgie“ wurden offenbar als Platzhalter für ein neuartiges Phänomen verwendet, für das es damals noch keine geeigneteren Begriffe gab: die Ubiquität der NS-Zeit sowie speziell Hitlers postume Präsenz in Massenmedien und Populärkultur.
Eine interdisziplinär besetzte Debatte über das Verhältnis zwischen Vergangenheitssehnsucht und Rechtspopulismus führt das Thema der politischen Ausprägungen, Motive und Implikationen von Nostalgie in die Gegenwart weiter. Deutlich wird dabei, dass ein Verweis auf (drohende) Nostalgie kein hinreichender Erklärungsfaktor für Denkmuster, Handlungsformen und Mobilisierungsstrategien der extremen Rechten ist. Gleichwohl bleibt die Frage wichtig, welche gesellschaftlichen Leitbilder, Ordnungsvorstellungen und Utopien sich in unterschiedlichen politischen Lagern jeweils mit bestimmten nostalgischen Elementen verbinden. Dabei erweist sich hier wie auch an anderen Stellen des Hefts, dass die vielzitierte Unterscheidung der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym zwischen einer „restaurativen“ und einer „reflexiven“ Nostalgie zu grob ist, um die Vielfalt des Begriffs und des Phänomens zu erschließen.
Zum breiten Spektrum des Themenhefts gehören außerdem zwei Essays: Juliane Brauer schreibt über den „politischen Gehalt von Heimatgefühlen“, während Marcel Thomas den nostalgischen Umgang mit lokaler Geschichte in einem ost- und einem westdeutschen Dorf beobachtet. Er findet zahlreiche Parallelen und interessante Feinstrukturen des Erinnerns, die mit den Schlagwörtern „Ostalgie“ oder „Westalgie“ nicht adäquat zu fassen sind. Für sensibles Beobachten historischer Sinnbildungen plädiert auch Sabine Stach in ihrem „Streifzug durch Ausstellungen über den Staatssozialismus“, die sie in Leipzig, Berlin, Warschau und Prag erkundet hat – Orte einer touristischen Aneignung von Geschichte, die anderen Regeln folgt als denen der Wissenschaft. Dazu passt schließlich Achim Saupes Relektüre von David Lowenthals klassischem Buch „The Past is a Foreign Country“, das seit dem ersten Erscheinen im Jahr 1985 „ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History“ geworden ist.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (ab dem aktuellen Heft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autorinnen und Autoren finden sich auf unserer Website.