Vor kurzem lernte der Autor in Beijing den chinesischen Künstler Prof. Dr. Xue Xiaoyuan kennen. Der Meister hat ein Studio nahe den Beijinger Westbergen, wo sich Naturschönheit und der alte chinesische Geist noch authentisch begegnen. Herr Xue ist nicht nur Maler, sondern auch ein vielfältig tätiger, renommierter Gelehrter und Herausgeber. Der folgende Artikel beinhaltet einige Reflexionen zur chinesischen Malerei, die sich im direkten Dialog mit Xue Xiaoyuan ergaben.
Wie im Bilde der Erscheinung die Natur durchscheint
Bemerkungen im Angesicht eines lichten chinesischen Portraits
Um Kultur zu verstehen, muss man sie erfahren. Man muss sie als einen Prozess der Verfeinerung, eines irgendwie gearteten Verbesserungsgeschehens, eines qualitativen Zugewinnens an sich selbst erfahren. Dann kann man Kultur auch an anderen, generell, nachvollziehen. Kultur hilft uns nicht nur, um uns fortzuentwickeln, als Individuen oder in Gruppen, sie ist ein basales Element der Kommunikation. Im reinsten Sinne ist sie vom Markt abgelöst, man kann zwar auch mit Kultur Handel treiben, aber reine Kunst, reine Kultur kommt in Form einer Schenkung. Wir teilen sie, ohne finanziellen Gewinn zu erwarten. Dennoch lebt sie, in Parallele zum Warenhandel, im Austausch, allerdings freilich in einer anderen Form des Austausches, der dann auch über die Notwendigkeiten des Marktes hinaus Bestand hat. Wir sind also eingebunden in das allgemeine Kesseltreiben der Interessen, aber der reine Akt des kulturellen Schenkens überhebt uns doch aus diesem, ermöglicht den Sprung in eine weitere, vertiefte, deutlich gehaltvollere Wahrung des Seins, von der aus wir zu verstehen beginnen. Hier nur wachsen wir wirklich.
Vor kurzem lernte der Autor in Beijing den chinesischen Künstler Prof. Dr. Xue Xiaoyuan kennen. Der Meister hat ein Studio nahe den Beijinger Westbergen, wo sich Naturschönheit und der alte chinesische Geist noch authentisch begegnen. Zudem ist Herr Xue nicht nur Maler, sondern auch ein vielfältig tätiger, renommierter Gelehrter. Er ist beispielsweise für die Herausgabe von über 1000 Büchern, dabei auch Übertragungen wichtiger historischer Werke aus dem Deutschen, teils federführend, teils in Leitungsfunktion verantwortlich. Hier, insbesondere aber in Herrn Xues künstlerischem Schaffen hat der Faktor der kulturellen Kommunikation eine besondere Form angenommen. Obwohl in seinem bildenden Kunstschaffen traditionelle Maltechniken in höchster Perfektion zur Anwendung kommen, transzendiert der Künstler die Welt traditioneller chinesischer Motive. Statt Pegonien, Singvögeln oder Bambus etc., hat Herr Xue die chinesische Tradition, berühmte Geistesgrößen und andere Personen der Kulturgeschichte abzubilden, auf ein im Mindesten erweitertes bzw. neues Niveau gebracht: Xues Portraits berühmter Geistes- und Kulturgrößen zeugen von individueller intellektueller Persönlichkeit; eine besondere Verehrung erfahren dabei auch deutschsprachige Philosophen. Der Aktuellste unter ihnen ist Jürgen Habermas, der sich, sehr erfreut, beim Maler für die künstlerische Widerspiegelung auch persönlich bedankt hat. Aber auch andere wichtige Persönlichkeiten, musikalische, auch Poeten, und Wissenschaftler, viele, aber freilich nicht nur solche aus dem deutschsprachigen Bereich, finden sich auf eindrucksvolle Weise im Sinne einer chinesischen Kunstform bei Xue reflektiert: Tagore neben Einstein, Beethoven, Hegel, Kant, Denker aus dem englischsprachigen Bereich, berühmte europäische Schriftsteller und natürlich zugleich auch eine große Sammlung chinesischer Denker aus 2500 Jahren. Die kulturelle Erinnerung der deutsche Philosophie, aber auch der Denkkulturen anderer Regionen, erfährt in Xues kraftvollem, rhythmischen Pinselschwung eine neue Beleuchtung aus der Perspektive einer weltoffenen chinesischen Kunstpraxis. Auf allusive Weise zeugen Xues Bilder dabei vor allem von dem, was sich eben als Gesamteindruck nur schwer in Worte fassen lässt. Seine Bilder sind ein Spiel mit der unauslotbaren, letztlich ineffablen Tiefe der verehrten und vorgestellten Persönlichkeiten.
Bei mehreren Besuchen im Atelier und dem Vergleich verwandter Motive aus verschiedenen Schaffensphasen des Künstlers fiel dem Autor auf, dass Xue Xiaoyuan über die Jahre einen ganz besonderen Stil entwickelt hat. Das motivische Faible hängt mit seinen weiteren Tätigkeiten und Arbeitsfeldern, auch denen als Herausgeber von Übersetzungen klassischer Werke der deutschsprachigen Geistesgeschichte, thematisch zusammen. Das besondere ist wie gesagt, dass die großen Denker und Künstler mittels einer ganz traditionellen chinesischen Maltechnik in eine, um es so zu fassen, „fluktuierende Schwebe“ eines momentanten situativen Ausdrucks hinein projiziert werden: Eine Resonanz von Bild und Künstler, die im Moment des Schaffens zu Tage tritt, wird im Bild und als eben dieses Bild gewissermaßen aufgespeichert, aufgehoben – in einem energetischen „Musterspeicher“, als einem Kunstobjekt aus Tinte und Papier. Sobald wir darauf hinblicken, kommen seine Farben und Formen klar hervor, das wache, wahrende Bewusstsein gerät instantan in nachempfindende Resonanz mit jener zuerst genannten ursprünglicheren Resonanz. Auf einzigartige Weise gelingt es Xue dabei, die Charaktere der Persönlichkeiten zu vermitteln, mit der im Bild aufzurufenden eigenen Lebensenergie zu verbinden, so ein nachempfindendes Verständnis jenseits bloßer objektiver Beschreibung zu initiieren.
Kurz: Jedes Bild ist auch eine situative Aufnahme; sie bildet den Schaffensprozess selbst ab, nicht bloß ein Motiv, nicht bloß einen Abgebildeten. Chinesische Malerei ist ein wenig wie Musik, jeder Pinselstrich bzw. der ganze Vorgang hat seinen charakteristischen Rhythmus. Damit verbunden ist im vorliegenden konkreten Fall, von dem hier berichtet wird, die konkrete Erfahrung einer kulturellen Schenkung. Der Künstler hat im Beisein des Autors in Beijing ein Bild Wang Yangmings, des großen chinesischen Denkers der Mingzeit gemalt. Er vermachte es dem Autoren gleich zwiefach: Und dieser verdankt wiederum – hoffentlich der Bedeutsamkeit der Schenkung genügend nachdenkend, dieser Situation, jenem ursprünglichen Impuls des Künstlers dankend nachfolgend, nun zudem eine neue Einsicht.
Der basalere Hintergrund dafür ist, dass der Autor, der derzeit als Professor an einer Beijinger Universität arbeitet, zwar in der deutschsprachigen Denktradition einerseits beheimatet ist, diese aber eben auch über dem Umweg des chinesischen Denkens, insbesondere der Philosophie Wang Yangmings jahrelang geradezu neu sehen gelernt hat. Die Basis einer dabei sich parallel vollziehenden Aneignung der Philosophie Wang Yangmings ist seitdem eine transkulturell komparative Forschungsperspektive: Handlungsleitend ist dabei die Einsicht, dass es für nichtchinesische Forscher am erfolgversprechendsten sein muss, die Beschäftigung mit der vormodernen chinesischen Philosophie auf komparativem Wege zu versuchen – und dass, nicht zuletzt, um differenzieren zu lernen. Wir sollten uns davon lösen, unbedarft Horizonte eines uns vielleicht näheren Kontexts auf einer andere, für uns vielleicht noch entferntere Denk- und Kulturmaterie zu projizieren oder dieser gar gleichsam aufpropfen zu wollen. Wir gewinnen dabei, indem notwendig charakteristische Denkprozesse kultiviert werden, bei denen nicht nur Klassiker des abendländischen Denkens nachgezeichnet werden, sondern die philosophische Suche führt zu der unausweichlichen Aufgabe, sich eben auch in geistige Resonanz mit alten chinesischen Meistern wie Wang Yangming zu bringen zu versuchen. Und gerade auch Wang Yangming ist, wie freilich viele andere chinesische Denkgrößen der Vergangenheit, auch heute noch ein Geschenk für alle geistig Interessierten. Das moderne Philosophenleben ist das eines (nicht nur geistig?) Weltreisenden: Gerade Wang Yangmings Denken gilt als Königsweg in die chinesische Geistestradition, eine epochemachender Denker, dessen soziokulturelle Wirkung in Ostasien durchaus vergleichbar ist mit der Martin Luthers im Abendland.
Niemand könne chinesische Denktradition verstehen, der Wang Yangming nicht studiert hat, so sein erster amerikanischer Übersetzer Wing-tsit Chan (in moderner Umschrift: Chen Rongjie, 1901-1994) in den 1960er Jahren: Und Wang Yangming war nicht nur ein (chinesischer) Philosoph, sondern auch ein herausragender General, ein Strategie-Spezialist sondergleichen, ein – nach wie vor hoch gehandelter – Kalligraph, ein epochemachender Dichter, ein Meister im Bogenschießen. Sein Denken hat nicht nur die allgemeine Geschichte, sondern im Speziellen auch die Ästhetik der Mingdynastie zutiefst geprägt.
Der Leser stelle sich nun also die Freude seitens des Autors vor, ein nahezu lebensgroßes Portrait Wang Yangmings übereignet zu bekommen! Die Situation, in der speziell dieses Bild geschaffen und auch überreicht wurde, stand in einem günstigen Zusammenhang; das Bild war außerordentlich gut gelungen, der Künstler selbst mit dem Ergebnis ebenso äußerst zufrieden wie der so vielfältig Beschenkte. Wir verglichen das neue Bild mit einer älteren Version aus dem Pinsel Xues. Hier wirkte Wang Yangming nun kraftvoller, zuversichtlicher als dort auf dem früheren Portrait, das er zehn Jahre zuvor gemalt hatte, ein voll wieder erstarkter Weiser, der in seinem Weg, die Welt zum Gleichgewicht zu führen, einem Weg, den er als seine unabdingbare Pflicht begreift, als dem Weg in den SINN der Unbegrenztheit der Singularität einer in jeder Situation klaren „Weg-Weisung“ des (ineffablen) dao 道.
Dabei reden wir hier freilich über den Charakter in der Reflexion, die aus dem schöpferischen Akt des Malens selber in der Situation, immer wieder neu und frisch und einzigartig erwächst: Wir kennen Wang Yangmings Texte, wir sind detailliert informiert auch hinsichtlich seiner Lebensgeschichte, verfügen über schriftliche Aufzeichnungen seiner Dialoge mit Schülern, wir kennen seinen philosophischen Briefverkehr. Wir können ihn uns also vorstellen. Und der Wang Yangming, mit dem der Autor beschenkt wurde, ist wirklich großartig, denn er führte diesen, und der Dank gebührt in doppelter Hinsicht dem Künstler, hier zum „Ge-Danken“, zu jenem im ursprünglichen Sinne eines, hier vielleicht mutatis mutandis am besten mit Heidegger zu artikulierenden „gesammelte[n], alles versammelnde[n] Gedenken“ (Heidegger, GA 8, 145).
Der eigentliche Akt des Malens ist hier wichtiger als das fertige Produkt. Dieses bildet jenen Akt ab, ist die Reflexionsfläche für den Prozess seiner Hervorbringung. Es handelt sich also auch um eine Aufzeichnung der Situation, im übertragenen Sinne wie eine Aufzeichnung improvisierter oder zumindest auf einmalige Weise variierter Musik. – Vielleicht kann man es so sagen?
Dem kreativen Akt beizuwohnen, den Rhytmus der Pinselstriche zu beobachten, die Körperhaltung des Meisters, die sich mit jedem Strich neu artikuliert, war hier in jedem Falle sehr erhellend. Kurz kam in der Situation eines kreativen Beiwohnens auch der Gedanke auf, das Verhältnis der chinesischen Malerei zur Schriftsprache sei vielleicht in gewissem Sinne dem von gesprochener Sprache zu Instrumentalmusik im europäischen Kulturkontext vergleichbar. Doch alle Vergleiche hinken irgendwie, können nur ein erster Ausgangspunkt für ein konkretes Verstehen sein. Wichtig ist, dass man als Europäer letztlich meistens der Gewohnheit forlgt, auf ein fertiges Produkt zu schauen, hinter dessen Perspektive oder bewusster Aperspektive sich ein (zu schauendes) Abstraktum verbergen kann (die Schönheit, in der Moderne: Gegenwart, Temporalität als solche etc.), während der chinesische Betrachter das (traditionelle) Bild quasi als Aufzeichnung eines einzigartigen Schaffensprozesses quasi visuell „hört“.
Den kreativen Verlauf und auch die zugehörigen Gedanken mit dem Künstler in gleichen Kontext kommuniziert zu haben, veränderte hier schließlich die Wahrnehmung des fertigen Bildes: Kurz nach Fertigstellung des Kunstwerks wurde mir bewusst, dass die Figur Wang Yangmings, als Abbildung, hier quasi wie ein Naturgebilde auf mich wirkt. Das Portrait ist nur vordergründig, dahinter verbirgt sich in den Pinselstrichen die Erhabenheit einer Natur, deren stellvertretendes Emblem hier Meister Wang Yangming ist – eine Erhabenheit, die wir aber auch alle gemeinsam, untrennbar repräsentieren, in allem unserem unlöslichen Denken und Tun.
In diesem Moment eröffnet sich das Verstehen. Es ist die Lebensenergie – oder besser: mit dem in seiner Fülle und Unlöslichkeit im Ganzen chinesischer Lebenswelten immer nur hindeutend zu übersetzenden Begriff qi 氣 – die, so Leibniz’ auch heute immer noch fruchtbares Angebot für eine mögliche Übersetzung: „vis vitalis“ des Malers, die zugleich ungeschieden ist vom qi氣 in dir und mir in allen Lebens- und Bewusstseinsprozessen, die sich hier künstlerisch manifestiert. Ich betrachte also nicht eine bloße Abbildung, sondern ich sehe, schaue hinein in eine Atmosphäre, Xue Xiaoyuans großartiger Wang Yangming, als Geschenk, das uns verbindet, ist gleichsam Träger einer Atmosphäre, die im Raum war, als das Bild entstand, Träger einer Atmosphäre, welche aber im Prozess des Schaffens auch mit allem verbunden war. Ich beginne durch die Pinselstriche hindurch zu sehen, nun auf eine tiefere Realität hin ausgerichtet, der Atmosphäre des Geschenks nachspürend. Das kulturelle Geschenk wurde dem Autor zu einer Türe, die sich leicht öffnen ließ.
(verfasst in Saas-Balen in der Schweiz, im Juli 2019)