Objekt der Sorge zu sein, ist auf den ersten Blick etwas, was nicht beunruhigen sollte. Im Gegenteil. So sorgt sich beispielsweise der Staat in Zeiten der Coronakrise um seine Bürgerinnen und Bürger und ergreift entsprechende Maßnahmen. Wer trotzdem erkrankt, wird von Ärzten und Pflegern umsorgt. Was sollte also beunruhigend daran sein, wenn sich jemand um uns sorgt? Der Philosoph, Kunstkritiker und Medienkritiker Prof. Dr. Boris Groys hat sich den Sorgebegriff genauer angeschaut und unterscheidet dabei zwischen Selbstsorge und Fürsorge. Was der Unterschied bedeutet, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Eine strukturelle Analogie zwischen einem Philosophen und einem Patienten"
L.I.S.A.: Herr Professor Groys, Sie haben jüngst ein Buch mit dem Titel "Philosophie der Sorge" veröffentlicht. In den vergangenen Jahren war im Zusammenhang mit der Coronakrise der Begriff der Sorge in aller Munde, so dass man zu Beginn der Lektüre Ihres Buches vermuten könnte, es handele sich um eine Schrift über die Pandemie. Tatsächlich greift das Buch viel weiter aus. Doch bevor wir zu einigen Details kommen - was hat Sie bewogen, sich mit der Philosophie der Sorge zu beschäftigen und darüber ein Buch zu schreiben? War Corona der Auslöser? Welche Überlegungen gingen dem Buch voraus?
Prof. Groys: Ja, die Pandemie spielte eine bestimmte Rolle – insbesondere die Proteste gegen die anti-pandemischen Vorsichtsmaßnahmen. Darüber hinaus hatte ich aber auch meine eigenen Gesundheitsprobleme und musste relativ viel Zeit in einem Krankenhaus verbringen. Wie alle anderen dort, wollte ich gesund werden. Aber was soll das eigentlich bedeuten: Gesund zu sein? Sich gesund zu fühlen bietet nämlich keine Garantie, dass man wirklich gesund ist. Das Gefühl gesund zu sein kann täuschen. Eigentlich sind es nur die Ärzte, welche einem sagen können, ob er gesund ist oder nicht. Die Ärzte haben aber oft genug unterschiedliche Ansichten und Kriterien der Gesundheit. Welchen von ihnen darf man glauben?
So ist mir klar geworden, dass es eine strukturelle Analogie gibt zwischen einem Philosophen und einem Patienten. Der Philosoph ist jemand, der die Weisheit will, aber sie nicht hat und nicht einmal weiß, wie sich Weisheit von Dummheit unterscheidet. So will der Patient die Gesundheit, aber hat keine Ahnung davon, was eigentlich damit gemeint ist. Das Buch entwickelt diese Analogie. Der Impuls, dieses Buch zu schreiben, kam vielleicht weniger von der Erfahrung von der Pandemie selbst, als von der Lektüre der Texte, die in diesem Zusammenhang geschrieben wurden. In der Regel beschäftigten diese Texte mit verschiedenen Plänen zur optimalen Organisation des Gesundheitswesens. Das heißt, sie wurden geschrieben von der Position des realen oder idealen Administrators dessen, was man als „biopolitischen Staat“ bezeichnet. So wollte ich stattdessen einen Text schreiben, welcher die ganze Sache aus der Position des Patienten reflektiert. Aus der Position der tiefen Ratlosigkeit, welche auch die Grundstimmung der Philosophie ist.