L.I.S.A.: Zurück zum Anfang und den wissenschaftlichen Disziplinen, die Sie studiert haben. Sehen Sie derzeit eine Gefahr, dass Expertise zu einseitig ausfallen kann, wenn sich eine Gesellschaft vor allem auf die Erkenntnisse und Empfehlungen vornehmlich einer wissenschaftlichen Disziplin verlässt? Könnte man in diesem Zusammenhang sagen, dass der Experte zwar sehr tief blicken kann, aber möglicherweise nicht sehr weit? Der Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht in seinem Essay "Über die Verborgenheit der Gesundheit" davon, dass zur Urteilskraft eines Forschers auch gehöre, den Fachegoismus in sich zu kontrollieren". Anders gefragt: Wie könnte unter medizinethischen Aspekten das Zusammenwirken unterschiedlicher Expertisen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gerade in Zeiten einer Pandemie aussehen?
Prof. Wiesing: Die Corona Pandemie hat uns deutlich gezeigt, dass die Wissenschaften der erste Ansprechpartner in einer solchen Bedrohung sind, was allerdings eben auch einige Probleme nach sich zieht. Es sind tatsächlich Experten zu Themen gefragt worden, über die sie nicht unbedingt geforscht haben. Und was den von Gadamer angesprochenen Fachegoismus angeht: Der ist auch nicht vollständig verschwunden durch Corona. Es muss in dieser Situation der alte Grundsatz bleiben: Schuster bleib' bei Deinen Leisten. Die Wissenschaft kann in der Krise das beste Wissen zur Verfügung stellen, das wir besitzen. Nämlich überprüftes, verlässliches, transparentes Wissen. Das soll sie auch tun und dabei ihre Grenzen nicht überschreiten. Sie kann aber der Politik eben nicht sagen, wie sie handeln soll, ohne dass die Wissenschaft auf Werte und Normen zurückgreifen muss, deren Gültigkeit sie als Wissenschaft nicht ausweisen kann. Insofern ist es wichtig, dass man weiß, was Wissenschaft kann und was sie nicht kann, und wofür Politik zuständig ist und eben auch nicht zuständig ist. Allgemein sehe ich die Gefahr einer scientistischen Neutralisierung. Die Politik schaut gerne auf die Wissenschaften, vor allem wenn unliebsame Entscheidungen getroffen werden sollen, um sich dann in ihren Entscheidungen zu entlasten. Das ist verständlich, insbesondere in der Ausnahmensituation einer Pandemie, aber nicht überzeugend. Die politischen Entscheidungen müssen von den Verfassungsinstitutionen anhand politischer Kriterien getroffen werden. Aber: kluge politische Entscheidungen zu treffen, ohne die Wissenschaften und ihre Erkenntnisse zu berücksichtigen, geht auch nicht.
Man wird davon ausgehen müssen, dass Corona nicht die letzte Pandemie ist, mit der die Menschheit konfrontiert ist. Vermutlich wird diese Erkenntnis bleiben und ebenso für dauerhafte Veränderungen im Kontaktverhalten und in der Hygiene sorgen. Was das aber konkret sein wird, weiß derzeit niemand.