Im vergangenen Jahr hat sich unser aller Leben grundlegend verändert. Vieles, was vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie noch als undenkbar galt, ist nun seit geraumer Zeit in großen Teilen der Welt Realität. Dazu gehören auch die neuen Hygiene-Standards, die aktuell den Umgang der Menschen miteinander bestimmen: wir geben uns nicht mehr die Hand, in öffentlichen Räumen ist das Tragen von Masken mittlerweile zur Regel geworden. Aber nicht nur unser menschliches Sozialverhalten hat sich stark an die neuen Gegebenheiten angepasst, auch im Umgang mit Infektionskrankheiten wurden neue Maßstäbe gesetzt. Das Prinzip, Leben um jeden Preis zu schützen, wurde zum obersten Gebot erkoren. Wird dieser ethische Standard wohlmöglich auch unseren Umgang mit anderen Infektionskrankheiten wie etwa der Grippe verändern, welche ebenfalls Jahr für Jahr ihre Opfer fordert? Und gibt es angesichts all dieser Veränderungen noch einen Weg „zurück“, in eine Welt vor der Pandemie? Oder wird „Social Distancing“ bis zu einem gewissen Grad auch in Zukunft unseren Alltag prägen? Diese und weitere Fragen haben wir mit dem Medizinethiker und Medizinhistoriker Prof. Dr. Urban Wiesing besprochen. Er forscht zu Ethik und Geschichte der Medizin und hat neben Medizin auch Philosophie und Soziologie studiert.
"Es gibt Menschen, die aus gutem Grund wollen, dass ihr Leben nicht mehr gerettet wird"
L.I.S.A.: Herr Professor Wiesing, bevor wir zu einigen detaillierteren Fragen kommen, zunächst eine grundsätzliche Frage zur Medizinethik: Wenn man davon ausgeht, dass die Sorge um die eigene Gesundheit ein Urphänomen des Menschseins ist, ist dann der Urstoff einer jeden Medizinethik nach wie vor der Hippokratische Eid, der unter anderem besagt: "In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven." Lässt sich aus "zum Nutzen des Kranken" ableiten, dass die Medizin in der Pflicht steht, menschliches Leben unter allen Umständen zu retten?
Prof. Wiesing: Sie sprechen mehrere Fragen an. Der Hippokratische Eid ist ein bedeutendes historisches Dokument der Medizin. Gleichwohl, man sollte ihn heute besser nicht schwören, weil er Passagen enthält, die kaum akzeptabel sein dürften. Die zitierte Passage hingegen verweist auf das ethische Prinzip, dass Ärzte ihre Position gegenüber Patienten nicht ausnutzen dürfen. Daran hat sich nichts geändert. Auch an der grundsätzlichen Ausrichtung, zum Nutzen des Patienten zu handeln, hat sich nichts geändert. Daraus kann man aber keine Pflicht ableiten, menschliches Leben unter allen Umständen zu retten. Denn es gibt Menschen, die aus gutem Grund und mit fester Überzeugung wollen, dass ihr Leben nicht mehr gerettet wird. In solchen Fällen kann Verzicht auf eine Behandlung oder Sterbehilfe „zum Nutzen des Kranken“ sein. Das ist grundsätzlich zu akzeptieren.