Im Laufe der Coronakrise tauchen medizinethische Fragen immer wieder auf. Was zählt das individuelle menschliche Leben im Verhältnis zur Gesamtheit einer Gesellschaft? Lässt sich das überhaupt gegenseitig verrechnen? Wer muss wie geschützt werden? Zu welchen gesamtgesellschaftlichen Kosten? Welchen Beistand bekommen Sterbende bei anhaltendem Infektionsrisiko? Ausgiebig debattiert wurde darüber im vergangenen Jahr indes wenig. Zu emotional verliefen einige Ansätze, die sehr bald wieder versandeten. Dabei sind diese und ähnliche Fragen alles andere als neu. Im Gegenteil: Bioethische Debatten erfahren immer dann eine Beschleunigung, wenn entweder das medizinisch Machbare bestehende Grenzen überschreitet oder diese nicht überwinden kann. Dabei dreht sich letztlich alles um zwei grundsätzliche Klärungen: Was bedeutet menschliche Autonomie? Was machen Helfen und Heilen angesichts einer zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens aus? Mit diesen Fragen setzt sich der Philosoph Prof. (em.) Dr. phil. Dr. med. h.c. Jan P. Beckmann in seinem Buch "Autonomie. Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft" unter anderen auseinander. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Autonomie des Individuums hat ihre Grenze an der Autonomie des Mitmenschen"
L.I.S.A.: Herr Professor Beckmann, Sie haben ein neues Buch vorgelegt, das den Titel "Autonomie" trägt und sich mit aktuellen ethischen Herausforderungen der Gesellschaft - so der Untertitel - auseinandersetzt. Auch wenn Sie sich in dem Buch nicht mit der Coronakrise beschäftigen - es wurde davor geschrieben -, liegt die Aktualität Ihres Buches auf der Hand. Neben medizinischen bzw. virologischen und epidemiologischen Fragen stehen derzeit auch ethische Fragen im Raum. Aber werden Sie auch tatsächlich diskutiert? Und würde sich eine solche Diskussion in die vielen Beispiele aus dem Spannungsfeld Mensch-Leben-Gesundheit-Medizin-Tod, die Sie in Ihrem Buch besprechen, einreihen? Kurzum: Warum dieses Buch?
Prof. Beckmann: Mein Buch gilt dem Thema Autonomie, weil in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Reihe fundamentaler Probleme, die damit zu tun haben, gleichsam „unter den Tisch gekehrt werden“. So steht bei der Erzeugung von Wissen statt des Orientierungswissens für alle das Verfügungswissen für wenige im Vordergrund, die Universitäten stehen unter dem Druck, reine Ausbildungsanstalten zu werden, der Einzelne erfährt sich immer weniger als Träger von Wissen; infolge von Fortschritten der medizinischen Wissenschaften stellen sich Unsicherheiten hinsichtlich des Beginns und des Endes menschlichen Lebens ein; rechtliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten halten mit den schnellen Entwicklungen der modernen Medizin nicht mehr mit; Sterben und Tod unterliegen häufig den Bedingungen der Medizin und nicht der eigenen Selbstbestimmung des Patienten; hinzukommen Probleme der Ökonomisierung in der Medizin, Gesundheit und Krankheit drohen zu reinen Wirtschaftsfaktoren zu werden; und last but not least ist des Menschen Verhältnis zum Tier ganz ungeklärt. Was bedeutet angesichts dieser und ähnlicher Entwicklungen überhaupt noch „Fortschritt“?
Deutlich wird Letzteres angesichts der Corona-Pandemie. Obwohl das Covid 19-Virus keine geographischen Grenzen kennt, wird weltweit nicht solidarisch gehandelt; selbst in einzelnen Ländern wie Deutschland stehen föderale Einzelinteressen im Vordergrund. Sodann: Politiker überbieten einander darin, dem Bürger „positive“ Nachrichten zukommen zu lassen, statt ihm klarzumachen, dass die Pandemie nur durch Beteiligung eines jeden erfolgreich bekämpft werden kann. Da ist völlig unsinnig die Rede von der „Vorenthaltung“, ja „Wegnahme“ von Grundrechten, wobei übersehen bzw. nicht verstanden wird, dass die Grundrechte nicht Besitz, sondern Verfasstheiten des Menschen sind und dies hinsichtlich der Trägerschaft zwar individuell, hinsichtlich ihrer Geltung aber universell. Mit anderen Worten: Die Grundrechte besitzen eine gemeinschaftliche Geltung, können mithin niemandem genommen werden, wohl aber zum Schutz elementarer Rechtsgüter der Verfassung wie etwa des Lebensschutzes hinsichtlich ihrer Inanspruchnahme zeitweilig eingeschränkt werden.
Das Thema Autonomie kommt hier insofern ins Spiel, als die Autonomie des Individuums ihre natürliche Grenze an der Autonomie des Mitmenschen hat und dieser nicht der „andere“ ist, sondern „einer wie ich“ – mit demselben Recht auf autonomiebasierte Selbstbestimmung, doch in den Grenzen des Respekts vor der Selbstbestimmung der Mitmenschen.
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Zu Dr. Müller: Dass Versicherte in der PKV bei Nichtinanspruchnahme der Krankenversicherung einen bestimmten Prozentsatz ihrer Prämien erstattet bekommen, ist ebenfalls gesetzlich geregelt und liegt damit außerhalb persönlicher Verantwortung. Verantwortlich ist der Gesetzgeber, nicht der Einzelne. Meine Problematisierung erfolgte daher auch diesbezüglich auf der kollektivethischen, nicht auf der individualethischen Ebene.
Generell gilt zu beiden Kritiken: Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaften noch ethischer Analyse, persönliche Kritiken zu verteilen, sondern auf gesellschaftliche Widersprüche aufmerksam zu machen und vertretbare Alternativen vorbereiten zu helfen.
Prof. Jan P. Beckmann
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Mein Güte, was ist denn in Deutschland los? Sind vom Steuerzahler bezahlte Professoren denn nur noch Gehaltsempfänger, die absurde Thesen verbreiten?
Meint er das ernst? Hat er schon einmal den Unterschied zwischen Versicherung (wo in etwa die gleichen Leistungen für den gleichen Beitrag fällig sein müssen) und Steuern gehört?
Eher nicht. Bei mir macht sich blankes Entsetzen breit, da Idologie wohl längst die Wissenschaft übernommen hat.
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