Wer vor einem Problem steht und es lösen möchte, muss das Problem zunächst verstehen, um anschließend urteilen zu können, was seine Lösung sein könnte. Das aber wiederum setzt voraus, dass Begriffe verwendet werden, die das meinen, was sie benennen. Was passiert aber, wenn an der Lösung eines Problems mehrere beteiligt sind, auch dieselbe Sprache sprechen, sich aber trotzdem nicht verstehen? Was, wenn die Begriffe nicht mehr für alle dasselbe bedeuten? Was, wenn sich Begriffe von ihrem Inhalt losgelöst haben, weil sie sich bis zur Bedeutungslosigkeit verschliffen und abgenutzt haben? Diesen Fragen nach der Semantik in modernen Gesellschaften geht aus philosophischer Perspektive Dr. Jan-Philipp Kruse von der TU Dresden in seiner aktuellen Monographie nach. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Wir verlieren das Besteck, um uns ausreichend gehaltvoll zu verständigen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kruse, Sie haben jüngst ein Buch mit dem Titel "Semantische Krisen. Urteilen und Erfahrungen in der Gesellschaft ungelöster Probleme" publiziert. Der Titel verspricht eine umfassende gesellschaftliche Gegenwartsanalyse. Bevor wir aber zu einigen zentralen Aspekten kommen - was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben? Welche Beobachtungen und Vorüberlegungen gingen Ihrer Arbeit voraus?
Dr. Kruse: Am Anfang stand eigentlich die Wahrnehmung eines gewissen Missverhältnisses, oder einer Bringschuld der Philosophie, wenn Sie so wollen. Damit meine ich, dass Phänomene wie die digitale Transformation der (politischen) Öffentlichkeit, der zum Teil besorgniserregende Zustand westlicher Demokratien oder auch der Umgang mit der ökologischen Krise einzelwissenschaftlich intensiv erforscht, aber nur selten in ihrem Zusammenhang beschrieben werden. Dabei ist es doch so: Natürlich legen beispielsweise digitale Plattformen ein anderes Kommunikationsverhalten nahe – aber warum sind ausgerechnet Dinge wie Verschwörungstheorien oder „shame storms“ so erfolgreich auf ihnen? Genauso ist darauf hingewiesen worden, dass liberale Demokratien gewissermaßen innere Erosionstendenzen aufweisen – aber eine entscheidende Frage ist doch: Wie konnte es so weit kommen, ohne dass die eine, bestandsgefährdende Ursache erkennbar wäre? Oder nehmen Sie die ökologische Krise, die aus theoretischer Sicht ein geradezu kurioses Problem darstellt. Kaum ein anderer Befund ist methodisch so gut abgesichert. Und kaum ein anderes Problem erscheint so dringend. Insofern könnte man ja denken: Eigentlich ist doch alles klar. „Challenge accepted“, Handlungsbedarf erkannt, lasst uns den Planeten retten.
Worauf ich mit diesen Beispielen hinaus möchte, ist die folgende Intuition: Bereits in der Verständigung über gesellschaftliche Krisen scheint es so etwas wie Krisen zu geben. Und die Ökologie zeigt dabei vielleicht am deutlichsten, dass solche Krisen aus einem einfachen Grund nicht egal sein können, denn bestimmte Probleme müssen schlichtweg gelöst werden. Die Lösung komplexer Probleme erfordert aber umfassende soziale Koordinierung. Das einzige uns bekannte, normativ akzeptable Mittel (und vermutlich auch das einzige mit einer realistischen Erfolgsaussicht) hierfür ist gesellschaftliche Verständigung. In gewisser Weise muss sich, glaube ich, der Eindruck aufdrängen, dass wir Gefahr laufen das Besteck zu verlieren, um uns ausreichend gehaltvoll zu verständigen: kontrovers und verständnisvoll (was sich am Ende gegenseitig bedingt).