L.I.S.A.: Wechseln wir von der Theorie zur Praxis. In jüngeren und gegenwärtigen Debatten fällt zunehmend auf, dass antagonistisch sich gegenüberstehende Gruppen nicht nur zu keiner Verständigung mehr finden, sondern sich offenbar im wortwörtlichen Sinne nicht mehr verstehen. Beobachten kann man das beispielhaft an der Verwendung großer bis dato kollektiver und sinnstiftender Begriffe seit der Aufklärung wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität oder Demokratie, aber auch am Verständnis ordnungs- und identitätsstiftender Institutionen wie Nation, Staat, Parlament oder Partei. Man spricht und urteilt offenbar nicht mehr über dasselbe. Was die einen Freiheit nennen, ist für die anderen Zwang. Was die einen für solidarisch halten, ist für die anderen eigennützig. Alles Anzeichen für gesellschaftliche Erosionsprozesse, ausgelöst durch eine fortschreitende gesellschaftliche Ausdifferenzierung?
Dr. Kruse: In diesem Zusammenhang möchte ich dafür argumentieren, gesellschaftliche Pluralisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen von problematischen Desintegrationserscheinungen zu unterscheiden. Das ist leicht gesagt, trifft aber einen wunden Punkt in der jüngeren politischen Theorie. Mancherorts hat sich dort – ohne das hier alles im Detail auszuführen – die Vorstellung verdichtet, dass „opinion … sole coinage“ der Politik wäre (in Linda Zerillis Worten). Ich verstehe durchaus die wohl oft guten Absichten dahinter. Solche Maneuver führen aber auch dazu, dass man etwa zu Verschwörungstheoretikerinnen oder Rechtspopulisten nur noch sehr wenig sagen kann. Sie verfolgen dann eben andere normative Agenden, oder schauen aus einer anderen, irreduziblen Perspektive auf die Welt – Punkt.
Für eine philosophische Betrachtung geht die Abstraktion hier meines Erachtens zu weit. Begriffe wie „Freiheit“ oder „Zwang“ erfüllen eine Aufgabe bei der Beschreibung der Welt. Sie haben, technisch gesprochen, eine funktionale Seite. Auf der einen Seite ist klar, dass es dabei oft genug einen Spielraum geben wird. Auf der anderen Seite scheint mir aber ebenso klar, dass sich Begriffe nicht beliebig verbiegen lassen. Irgendwann werden sie sich dann nicht mehr zu einer solchen Beschreibung der Welt eignen, die sich in eine zumindest prinzipiell erfolgsfähige (funktionierende) Problembearbeitungstätigkeit übersetzen lässt.
Der Streit um die Auslegung von Begriffen, gerade der großen Begriffe, ist ja eigentlich eine Art Betriebsmodus des Demokratischen. Was heißt Freiheit? Was ist gerecht, was nicht? Gleichzeitig ist dieser Streit unter demokratischen Bedingungen in ganz bestimmter Weise gerahmt. Er findet auf einem geteilten Spielfeld statt, das nicht allein durch Regeln definiert ist. Die oder der andere erscheint nicht als Gegner, deren abweichender Standpunkt ein bloßes Ärgernis wäre. Ihre Position ist vielmehr potentiell interessant, weil sie einen anderen Blickwinkel auf gesellschaftlich geteilte Problemlagen wirft und deren Beschreibung so vertiefen könnte. Das mag in der Verkürzung ein wenig idealisiert klingen, es ist aber genau besehen der entscheidende Unterschied zwischen dem demokratischen Diskurs einer Republik und so etwas wie latentem Bürgerkrieg. Die Republik ist eine gemeinsame Sache – daher müssen die gemeinsamen Deutungsbegriffe mindestens bis dorthin reichen, bis wohin sich die geteilten Probleme erstrecken.
Genau das ist ein Ansatzpunkt für die Theorie semantischer Krisen. „Alternative Fakten“ sind keine Fakten. Mit ihnen ist keine conditio einer postmodernen Demokratieform beschrieben, so als ob eine gemeinsame, konstruktive Perspektivbildung nicht mehr möglich oder nötig sein würde. Es geht vielmehr darum, ob die verschiedenen (gleichwie ausdifferenzierten) Standpunkte bei der Bearbeitung von gesellschaftlichen Problemen zusammenspielen können. Das ist überhaupt nicht im Sinn einer normativen Setzung gemeint – als ob die Philosophie vom Schreibtisch aus dozieren könnte, wie es sein sollte. Das Anliegen des Buchs ist in dieser Hinsicht die Rekonstruktion der Bedingungen, die es ermöglichen, Probleme sinnvoll zu bearbeiten.