Wenn man Thomas Hobbes' Metapher des Leviathan weiterdenkt und sich Gesellschaften als einen gigantischen Körper vorstellt, dann könnte man Gesellschaften auch ein Nervenkostüm zuschreiben. Und tatsächlich scheinen Gesellschaften über ein neuralgisches Zentrum und die entsprechenden Emotionen zu verfügen - allein die Geschichtsschreibung der Moderne ist reich an Beispielen, in denen (nationalen) Kollektiven ein verbindender emotionaler Haushalt bzw. gemeinsame Pathologien attestiert wird: um 1800 Hypochondrie, um 1900 Hysterie und Neurasthenie und seit der Jahrtausendwende Depression, ADHS und Burn-out. Aktuell dominieren Angst, Wut und Hass die gesellschaftliche Befindlichkeit. Ihnen kommt eine nicht unerhebliche Bedeutung zu, wenn es darum geht, politisches Handelns zu legitimieren und gesellschaftliche Krisensymptome zu erklären. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Lars Koch von der TU Dresden forscht seit Jahren zu den Phänomenen Angst, Wut und Hass und fragt nach deren gesellschaftlichen Folgen. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Gesellschaften erzählen sich Geschichten, um sich in der Welt zu situieren"
L.I.S.A.: Herr Professor Koch, Sie haben sich als Literatur- und Medienwissenschaftler lange mit der Emotion „Angst“ beschäftigt und vor einigen Jahren dazu ein umfangreiches und interdisziplinär angelegtes Handbuch herausgegeben, in dem Autoren und Autorinnen aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen Fragestellungen das Thema „Angst und dessen Spielformen“ beleuchten. Bevor wir zu einigen Details kommen, was interessiert Sie als Literatur- und Medienwissenschaftler am Phänomen „Angst“, das man vielleicht eher der Psychologie oder der Medizin zuordnen würde? Welche Überlegungen gingen Ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Angst voraus?
Prof. Koch: Seit dem Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich die Literatur- und Medienwissenschaft immer als im hohen Maße politische und auch kritische Wissenschaften verstanden. Zunächst habe ich mich im Kontext meiner Dissertation mit den ideenpolitischen und ästhetischen Framings von Krieg und Gewalt in den 1910er und 1920er Jahren beschäftigt. Nachdem diese Arbeit zum „Ersten Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne“ 2004 abgeschlossen war, rückten dann verstärkt 9/11 und der "War on Terror" in meinen Fokus – immer verschoben auf eine Beobachterebene 2. Ordnung: Ich beobachte, wie die Gesellschaft in theoriegeleiteten Diskursen, aber eben auch in der Literatur, im Kino usw. über sich selbst und ihre Konflikte kommuniziert. Und im politischen Diskurs, wie in den populärkulturellen Dramatisierungen wie beispielsweise der TV-Serie „24“ spielen Emotionen – Angst und Hass, aber auch Hoffnung usw. eine wichtige Rolle. Gesellschaften erzählen sich Geschichten, um sich in der Welt zu situieren, die Imagination ist ein kollektiver Vorstellungsraum, in dem sich verschiedene Szenarien von Vergangenheit, aber auch von Zukunft durchspielen lassen. Die dort zirkulierenden Erzählungen reduzieren Komplexität, bieten Identifikation und Rollenmuster an, machen bestimmte Beschreibungen von Gesellschaft populär. Zudem sind sie ein wesentliches Element des kollektiven Emotionshaushalts der Gesellschaft. Da setzt mein Forschungsinteresse an.