Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gehört heute zu jenen, die besonders häufig gestellt wird. Die Krisen der jüngeren Vergangenheit - Eurokrise, Migrationskrise, Klimakrise, Coronakrise usw. - scheinen neben ihrer jeweiligen eigenen Krisenhaftigkeit tiefe Risse innerhalb der modernen Gesellschaften freizulegen. Dieser Befund verlangt nach Reparatur, insbesondere nach einer Reparatur der gesellschaftlichen Kommunikation. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. K. Ludwig Pfeiffer konstatiert in diesem Zusammenhang einen Verlust an Streitkultur, einen Verlust an spielerischen Formen der Vergesellschaftung. Formen und Rituale, die das klassische Athen einst im Symposion eingeübt und ausgelebt hatte. Diesem verlorengegangenen Gastmahl der Antike geht Professor Pfeiffer in seinem Buch auf die Spur und durchforstet dabei Geschichte und Literatur nach Praktiken des sozialen Zusammenhalts. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Institution eines Trinkgelages nach dem Mahl 'ohne besonderen Anlass'"
L.I.S.A.: Herr Professor Pfeiffer, Sie haben jüngst ein neues Buch veröffentlicht, das den Titel "Das Symposion. Sozialer Zusammenhalt in Geschichte und Literatur" trägt. Bevor wir zu einigen konkreten Aspekten in Ihrem Buch zu sprechen kommen - was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben? Welche Beobachtungen und Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Prof. Pfeiffer: Es begann alles ganz zufällig. Irgendwann nach meiner zweiten Emeritierung an der Jacobs University Bremen 2011 wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich einen lange gehegten Plan – die gründliche Lektüre von Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte – immer noch nicht verwirklicht hatte. Die unverzügliche Lektüre überraschte mich durch das extreme, ja entscheidende Gewicht, das Burckhardt der Rolle des Symposions beimaß, das heißt wohlgemerkt der Institution eines Trinkgelages nach dem Mahl „ohne besonderen Anlass“. Nicht den erhabenen, in Platons Dialog mit dem Titel Symposion verhandelten Themen, sondern einer Einrichtung des klassischen Athen, die Burckhardt zum entscheidenden Medium in der Formation des griechischen Geistes und zum Garanten einer bei aller Kompetitivität des lebensweltlichen agon weitreichenden sozialen Kohäsion erklärte. Diese scheinbar der heutigen Welt abgewandten Überlegungen gewannen eine unvorhergesehene Aktualität, als sich Mitte des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts in Deutschland und anderswo (mit dem schließlichen Höhepunkt der Todesopfer fordernden Erstürmung des Kapitols in den USA) Klagen über den drohenden Zerfall von Gesellschaften (man vergleiche auch die Rede von „failing states“) häuften. Die gewohnten Filter, durch welche Konflikte und Aggressionen formuliert, angeheizt aber auch abgekühlt wurden (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften usw.) schienen nicht mehr zu greifen – eine Entwicklung, die ein für mich schon immer wichtiger Soziologe, Helmut Schelsky, bereits in den frühen 1950er Jahren aus anderer Perspektive als Realitätsverlust der heutigen Gesellschaft zu beschreiben versuchte. Schlagartig wurde klar, dass der heutige Begriff des Symposions oder gar Symposiums eine bezeichnende semantische und kulturgeschichtliche Verdrehung des Sachverhalts darstellte: Bei den alten Römern etwa gab es das klassisch-athenische Symposion schon nicht mehr, und das Symposion oder Symposium im heute dominierenden Sinn von Tagung, Konferenz usw. bietet eher eine Perversion der ursprünglichen Praxis, vor allem dann, wenn man an die reale Funktion dieser "Konferenzen" denkt.
Der bis zur Selbstparodie der Klage vorangetriebene Höhepunkt des Lamento in Deutschland kam mit der 0:6 Niederlage der Fußballnationalmannschaft gegen Spanien im November 2020, die selbst von der FAZ peinlich genau in die Geschichte höchster Niederlagen eingereiht wurde. Das war das Signal: Es musste etwas auch von Kultur-, Literatur- oder Sozialhistorikern getan werden, vor allem, da man bis zu Georg Simmel zurückgehen musste, um systematisch-theoretisch Interessantes zur Geselligkeit zu erfahren, die offenbar die kulturgeschichtlichen Befunde Burckhardts noch plausibler machen konnte. Die "Interaktionsabteilung" der heutigen Systemtheorie und andere führende Gesellschaftsmodelle der Soziologie heute (Resonanz etwa bei Hartmut Rosa) decken die Funktion der Geselligkeit nicht ab bzw. verstärken wie die Singularitäten bei Andreas Reckwitz sogar den Bedarf für eine Geselligkeitstheorie à la Simmel. Für wie wichtig er sie hielt, kann man daran ermessen, dass er den Einleitungsvortrag zu diesem Thema beim ersten Deutschen Soziologentag 1910 in Frankfurt am Main hielt und der Geselligkeit 1917 ein Kapitel (von vier) in seinen Grundfragen der Soziologie (jahrzehntelang vergriffen) widmete.