Viola Costanza: Herr Groß-Morgen, Bischof Paulinus ist heilig. Damit sind die Seiden, die vermutlich mit seinen Gebeinen in Berührung kamen, Reliquien. Durch wen wurde Paulinus heiliggesprochen und welche Rolle spielt er heute?
Markus Groß-Morgen: Eine Heiligsprechung im heutigen Sinne gab es damals nicht. Unser heute verwendetes Heiligsprechungsverfahren ist erst seit der Jahrtausendwende üblich. Vorher genügte das Martyrium, also das Leiden und Sterben oder auch das Bekenntnis um des Glaubens willen. Die Heiligkeit musste nicht wie heute an definierte Voraussetzungen (z.B. Wunder) geknüpft sein. Reliquien ersten Ranges waren zunächst einmal die Gebeine der Heiligen, die „wertvoller sind als kostbare Steine“ (Martyrium Polycarpi). Daneben wurden dann auch Dinge (z.B. Kleidungsstücke) durch Faktenlage zu (Sekundär-) Reliquien, also beispielsweise durch Berührung oder Tragen. Diese Auffassung von Reliquien findet sich zum Teil schon in der Bibel angelegt. Im Alten Testament gibt es die Erzählung, dass ein Mann durch das Anrühren der Gebeine von Elisäus wieder zum Leben erweckt wurde (Zweites Buch der Könige, Kapitel 13, Vers 20 ff). Im Neuen Testament wird die Frau, die an Blutungen leidet, durch die Berührung des Gewandes Christi geheilt (Mt 9,20; Lk 8,44; 5. Mose 22,12). Wobei die Heilung natürlich nicht durch die Berührung kam, sondern durch den Glauben an Christus. Die Frau hat darauf vertraut, dass sie von diesem Menschen Heilung erfährt. Das hat sich in der Geste der Berührung ausgedrückt.
Die Echtheit einer Reliquie spielt bei dieser Form des Glaubens eine untergeordnete Rolle. Die Reliquien können ein Zeichen, ein Bild für mich sein. Wenn ich Paulinus als Mensch sehe, der versucht hat, seinen Glauben konsequent zu leben, dann kann er mir ein Vorbild sein und darin ist seine Heiligkeit und seine Verehrung im Grunde auch für mich begründet.
Allerdings gibt es nun bei Paulinus auch eine historische Dimension, die genau in das Reliquien- und Märtyrerverständnis der Kirche hineinführt. Wenn wir anhand der aktuellen naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Schädelreliquie das Alter und die Herkunft dieses Menschen ermitteln und so die Überlieferung bestätigen können, dann sind das Dinge von wissenschaftlicher und historischer Bedeutung. Diese machen ihn dann tatsächlich zu einem einzigartigen Zeugnis einer Verehrungspraxis des 4. Jahrhunderts und einer seither über mehr als anderthalb Jahrtausende währenden Kontinuität der Verehrung am gleichen Ort.