Was ist ein (toter) menschlicher Körper?
Die Frage danach, was ein menschlicher Körper nach dem Tod des Individuums ist, beschäftigt nicht nur Geisteswissenschaftler*innen unterschiedlicher Profession, sondern ist auch theologisch, medizinisch wie rechtlich wohl einer der Grenzbereiche des Wissens. Was ist ein Körper, wenn er kein menschliches Leben (mehr) enthält? Wann ist dieser Zustand erreicht? Wie ist das Verhältnis von Körper und dem, was mitunter „Seele“ genannt wird? Wie ist dann mit diesem Körper zu verfahren? Welche Rechte, Pflichten und Möglichkeiten hat dieser, wie grenzen sich diese von einem lebenden Körper (d.h. einem lebenden Menschen) ab? Schmitz-Essers detailreiche und faszinierende Studie(n) und die Einblicke, die er in seinem Interview gibt, bieten Leser*innen nicht nur spannende Erkenntnisse über den Umgang mit Tod, Sterben und der menschlichen Hülle im sog. Mittelalter, sie liefern auch Anregungen zu einer individuellen wie strukturellen Auseinandersetzung damit, wie wir heute mit diesem hybriden Zustand des toten Körpers umgehen (wollen).
Schmitz-Esser führt ein in eine Welt, die „unserer“ so gleicht wie sie gänzlich anders ist: Das Verhältnis von Seele und Körper der mittelalterlichen Gemeinschaften mag mitunter kurios erscheinen, etwa da, wo den Leichen und ihren Teilen bestimmte Kapazitäten zugesprochen wurden. Als Heiligenreliquien sind sie uns bis heute bekannt, wenngleich das Zerteilen zwecks Maximierung des Reliquienertrags christlich-säkularen Beobachter*innen des 21. Jahrhunderts als nahezu archaische Körperpraxis vorkommen mag. Besonders das (Rand-)Phänomen der Pasta di Reliquie – bei dem Heiligenknochen gemahlen und zu einem Teig verarbeitet werden, auch welchem wiederum Bildwerke geformt werden können – ist dabei in der Rückschau eine Praxis, die heute kurios anmutet. Die Nähe der Lebenden und der Toten wurde spätestens im 19. Jahrhundert aufgetrennt, bestattet wird nicht mehr ad sanctos in Kirche und dazugehörigem Hof, sondern nach den großen Bestattungsreformen in verschiedenen Teilen Europas zunächst auf Geländen außerhalb der Stadt – die nun wieder oftmals Teil der Städte sind. So wurden Lebende und Tote über längere Zeit eine örtliche Gemeinschaft, die miteinander agierte, gegenseitig sich bedingte. Zu bedenken muss dabei wohl sein, wie dieses Verhältnis von Zeitgenöss*innen rezipiert wurde. War es gänzlich positiv? Zwar waren Garant*innen von Fürbitten, die Toten boten die Möglichkeit der Memoria, der Sterblichkeitserinnerung und konstituierten nicht zuletzt auch eine lange bestehende Gemeinschaft, doch der tote Körper und seine Teile (wie etwa Knochen) boten zugleich auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Damit sind nicht die seuchenhygienischen Bedenken des 19. Jahrhunderts
gemeint, sondern vielmehr die Kapazitäten, über die Knochen im Volksglauben (das Wort des Aberglaubens sei hier bewusst vermieden) mitunter verfügen sollten. Zwar konnten diese durchaus positiv sein, etwa war es möglich Gewinnzahlen durch Schädel vorhersagen zu lassen oder durch das Moos, was auf den Schädeln von Gehenkten wuchs, bestimmte medizinische Probleme zu beheben, zugleich stellten sie aber auch eine Gefahr dar. Sie konnten die Unruhe der Gewesenen begünstigen oder von Akteur*innen mit schlechten Absichten für allerlei Schaden(szauber) hergenommen werden. Was heute in der Rückschau mitunter kurios sein mag, entbehrt doch nicht einer gewissen Aktualität, sind doch bis heute Rituale überkommen, die im Todesfall nicht nur eine hygienische Versorgung, sondern auch eine metaphysisch störungsfreie Passage ermöglichen sollen.
War die Gemeinschaft der Toten und der Lebenden im Mittelalter also mitunter gar keine so harmonisches Zusammensein, sondern vielmehr auch von Sorge und Schutzversuchen geprägt, in deren Kontext das Beinhaus auch als architektonischer Bannkreis die Grenze darstellte?
Dass das Verhältnis von Leben und Tod, lebenden Menschen und toten Körpern und das Verständnis dessen, was ein toter Körper eigentlich ist und wie damit umgegangen werden soll, einem Wandel unterliegt, nie statisch ist und es keine allgemein gültigen Prozesse, sondern nur grobe Regeln sind, die wir in der Rückschau meinen auszumachen, zeigt sich an einem Beispiel: Im oberbayerischen Grafrath wird seit dem Mittelalter der heilige Rasso, ein lokaler Heiliger, ob seiner heilsamen Wundertätigkeit verehrt. Wie es die Tradition verlangt, gaben die Geheilten dafür lange Zeit Votivgaben, die als Zeichen ihrer Dankbarkeit und der Wirkmacht der Reliquien in der Kirche bewahrt und mitunter ausgestellt wurden/werden. Zu diesen Gaben gehör(t)en neben Geldspenden etwa Bilder des Wunders, Spruchtafeln, Kerzen und andere Wachserzeugnisse. In Grafrath indes war lange Zeit eine weitaus körpernahere Form der Gabe üblich. Während sonst mitunter Wachs oder Metall symbolisch das geheilte Körperteil imitierte oder das Gewicht der Betroffenen in Wachs aufgewogen wurde, so spendeten die Gläubigen, die in Grafrath von Körperleiden wie Steinen in Blase und Niere, entzündeten Wunden oder anderen Erkrankungen, welche Einfluss auf die Knochen des Körpers haben, geheilt wurden, die entsprechenden Teile des eigenen Körpers! Bis heute sind Zähne, Nieren- wie Blasensteinen und Splittern von Knochen – von wenigen Millimetern bis einigen Zentimetern – vorhanden. In Silber gefasst oder mit Textil umschlungen erinnern sie an kleine Reliquien oder an Schmuckstücke wie bayerische Charivari-Trophäen. Mögen sie für Betrachter*innen des 21. Jahrhunderts kurios oder aus der Zeit gefallen erscheinen, so lassen sie doch den Schluss zu, dass hier ein anderes Körperbild, ein ganz anderes Verhältnis zum (eigenen) Körper und zum Leben erahnbar wird. Nicht nur weisen die abgegangenen Steine und Knochenfragmente auf medizinhistorisch interessante Diagnosen hin, auch stellen sie das Verständnis des Körperbildes auf die Probe. Woher kommt in Grafrath diese Abweichung von der üblichen Votivgabentradition? Waren finanzielle Aspekte wichtig, etwa weil die Gaben von Menschen kamen, die keine Möglichkeiten zum Kauf von Wachs hatten? Waren es besonders intime Gaben im Sinne des Stiftens eines eigenen Körperteils? Oder waren es im Gegenteil erleichterte Hingaben von Teilen des eigenen Körpers, die nun zu Fremdkörperteilen geworden waren, über deren Entfernung große Freude herrschte? Welches Verständnis vom eigenen Körper stand dahinter? Wo/wann hörte der eigene Körper auf? Gehörten die Votivgaben noch zum eigenen Körper, waren sie Auto-Votivgaben? Oder waren sie gleichwertig in der Rezeption zu anderen Objekten wie etwa Wachs?
Schmitz-Essers Untersuchungen können dazu führen, die eigene Sicht auf den Körper sowie die soziokulturellen Konstrukte, wie sie aktuell gegeben sind, kritisch zu analysieren. Wenn Körperverhältnisse und der Umgang mit dem Leichnam immer fluid und hybrid war, individuellsituativen Gegebenheiten mitunter mehr als im Nachgang attestierten Gesetzmäßigkeiten folgte, Zeiten und Einstellungen sich änderten – dann könnte das für unsere Zeit bedeuten, auch die Regeln und Verständnisse auf den Prüfstand zu stellen. Nicht ohne Grund erwähnt Schmitz- Esser die jüdischen und muslimischen Einflüsse. In einer weltanschaulich so breit gefächerten Gemeinschaft wie im Deutschland des 21. Jahrhunderts, bei dem seit 2022 erstmals weniger als die Hälfte der Bewohner*innen den institutionell-organisierten christlichen Kirchen angehören, ist eine Vielstimmigkeit im (funeralen) Körperumgang nötig. In einigen Bundesländern sind Sargpflichten aufgehoben. Seit kurzem – aber bislang nicht medial aufregend begleitet – kann in Deutschland der menschliche Leichnam zu Mutterboden kompostiert werden. Über Sterbehilfe wird ohnehin immer wieder diskutiert, ebenso über Organspenden oder auch Schwangerschaftsabbrüche – wenngleich diese am anderen Rand des Lebens liegen.
Welche Traditionen sind für Nicht-Christ*innen befremdlich? Welche würde es sich lohnen zu übernehmen, welche Hybridformen könnten entstehen? Erst 2019 zeigte die Aktion „Sucht nach uns!“ des Zentrums für politische Schönheit, bei der das Kunstkollektiv die (vermeintliche) Leichenbrandasche von Opfern des Nationalsozialismus ausstellte, dass das Denken und Agieren in christlich sozialisierten Parametern im 21. Jahrhundert in Deutschland nicht mehr trägt. Zu groß war die Diskrepanz zwischen Aktions-Intention und -Rezeption. Die Künstler*innen hatten im Vorfeld wohl nicht mit Vertreter*innen der Opfergemeinschaften, besonders den Nachfahren der ermordeten Jüd*innen, gesprochen, sondern hatten in der Bild- und Ausstellungspraxis christlicher Traditionen agiert. So machten sie die Nachfahr*innen der Opfer zu Zuschauenden des Narratives der eigenen Geschichte, wo sie doch als Mit-Akteuer*innen wertvolle Hinweise und Denkanstöße hätten liefern können – etwa durch den ganz basalen Hinweis, dass das Stören der Grabstelle im Judentum weitaus mehr als im Christentum mit einem zeitlich unabhängigen Tabu belegt ist. Entsprechend muss auch ganz allgemein gefragt sein, wie sich – auch in diesem kleinen Text, der einige Gedanken in Reaktion auf Schmitz-Esser zu formulieren sucht – „wir“ gestaltet. Wer ist dieses „wir“ und wie grenzt es sich zu „anderen“ ab? Konstituiert sich die Gemeinschaft im 21. Jahrhundert noch durch gemeinsame Religion – respektive religionsunabhängige Weltanschauung? Und wie stabil kann eine Konstitution durch gemeinsame geographische Herkunft sein in einer so mobilen Welt, in der (eigene wie vorhergehende Generationen betreffende) Umzüge und Migration keine Seltenheit sind?
Welche Formen des Umgangs mit menschlichen toten Körpern sind angemessen, soll allen Vorstellungen Rechnung getragen werden? Welche Wünsche wurden und werden ausgeschlossen, welche müssen ausgeschlossen bleiben? Wie könnte, um auf Schmitz-Essers Bemerkungen zum Zombie zurückzukommen, die Sorge vor den Leichnamen im 21. Jahrhundert abgefangen werden? Tragen die alten Rituale noch oder bedarf es neuer? Der Umgang mit toten Körpern war und ist durch die plötzliche Leerstelle wo eben noch eine Person war immer ein fragiles Abwägen zwischen Pietät und Angst, Liebe und Sorge, Hygiene und Metaphysik. Wie kann das gelingen in einer Welt, in der Leichen in allen Formen und Fragmentierungen zum Accessoire für Grusel werden? Wo auch die althergebrachten Reliquien mitunter das zeitgenössische Mal des #gruselig erhalten? Ist der menschliche Überrest gruselig oder ist es die als unzureichend empfundene eigene Abschirmung vor der (eigenen) Endlichkeit, die in diesen Momenten durch verschärfte Ablehnung sublimiert werden soll? Eine Ablehnung, die durch die Verwendung von (artifiziellen) menschlichen Überresten in der Populärkultur verstärkt bzw. betont wird, wenn etwa Schädelknochen zum gängigen Requisit für Horror und Grusel gehören. Nicht nur im Mittelalter wurden Leichnamen gewisse Kräfte jenseits des natürlichen zugesprochen, auch danach – und bis heute – kennt der Volksglaube entsprechende Kapazitäten – welche dann durch die Popkultur gerne zitathaft und sinnentleert verwendet werden. Wenngleich diese aktuellen Benützungen als Rückgriffe auf Jahrhunderte alte Vorstellungen passieren, so perpetuieren sie doch Bilder, die den Umgang mit menschlichen Überresten nicht einfacher machen.
Zum Umgang mit Untoten, Wiedergänger*innen und ähnlichen Besucher*innen von jenseits des Schleiers empfiehlt sich im Übrigen eine Liedzeile von Dirk von Lowtzow: „Relax. It‘s only a ghost.“