Das a.r.t.e.s. forum ist die interdisziplinäre Jahrestagung der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland einlädt, aus ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive zum Tagungsthema Bezug zu nehmen. Das a.r.t.e.s. forum 2016 versammelte Beiträge zum Thema "text – language – media". Im Folgenden ist die Zusammenfassung von Prof. Dr. Judit Árokay zu ihrem Vortrag beim a.r.t.e.s. forum am 15. Juli 2016 zu finden.
Kulturelle und sprachliche Aneignung im Kontext: mit Max und Moritz zu Gast im Japan des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Judit Árokay (Japanologie, Universität Heidelberg) zum a.r.t.e.s. forum 2016
Die erste Übersetzung von „Max und Moritz“ in Japan
Max und Moritz – Eine Bubengeschichte in sieben Streichen von Wilhelm Busch (1865) erschien in einer japanischen Übersetzung unter dem Titel Wampaku monogatari „Lausbubengeschichten“ in den Jahren 1887 und 1888 in Tōkyō, herausgegeben vom „Verein für die Einführung der lateinischen Schrift“ (Rōmaji-kai). Es handelt sich dabei um die Übersetzung der ersten vier Streiche, die in zwei Bänden zusammen mit den Originalzeichnungen der deutschen Ausgabe veröffentlicht wurden. Zwei Übersetzer sind auf dem Deckblatt genannt: Shibutani Ichirō und Oyaizu Kaname haben jeweils zwei Streiche übersetzt. Ob die Übersetzung direkt aus dem Deutschen oder aus der frühen englischen Version angefertigt wurde, ist nicht belegt. Die beiden genannten Übersetzer sind sonst nicht mit deutschen Texten in Verbindung gebracht worden und verfügten wohl nicht über Deutschkenntnisse.
Die Besonderheiten der Publikation sind die lateinische Schrift, die Verwendung der klassischen (vormodernen) japanischen Schriftsprache, die einem klassischen Rhythmus von sieben und fünf Silben folgt, die im Detail recht freie Übertragung, die aber im Ganzen die für den japanischen Kontext fremden Inhalte getreu vermittelt. Besonders betrachtet wurden in dieser Präsentation die Auswahl der Sprache (bzw. des Sprachstils), die als Zielsprache dient, die Wirkung des japanischen Textes in lateinischer Schrift, und in Bezug auf die Übersetzung die Strategien bei der Übertragung von Namen, Attributen der Personen, religiösen, sozialen Realia und von Lautnachahmung sowie die Erzeugung von sprachlicher Komik.
Eingangs wurde die komplexe sprachliche Situation im späten 19. Jahrhundert vorgestellt, um die Analyse des Textes vorzubereiten.
1. Die sprachliche Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert: Welche der japanischen Sprachvarianten bietet sich an, um Max und Moritz zu übersetzen?
Die japanische Sprache befand sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Zustand der Diglossie, in der gesprochene und geschriebene Sprache eindeutig voneinander unterschieden waren. Die Varianz innerhalb des Geschriebenen und Gesprochenen war zudem sehr groß, denn am Ende des 19. Jahrhunderts stehen wir noch vor der Etablierung einer Hochsprache, und auch im Schriftlichen haben wir es nicht mit einer einzigen Sprachvariante zu tun, sondern mit dem klassischen Japanischen, dem Sino-Japanischen (kanbun) sowie deren vielfältigen Varianten. Eigenartigerweise hätte sich in dieser Zeit durchaus das Sino-Japanische als Übersetzungssprache angeboten, quasi die Übersetzung in eine weitere Fremdsprache, denn in der ausgehenden frühen Neuzeit wurden Texte aus europäischen Sprachen in erster Linie ins Sino-Japanische übersetzt. Aber auch das sog. futsūbun, die in Zeitschriften, Zeitungen, öffentlichen Publikationen bewährte stark sinisierte Form des Japanischen wäre denkbar gewesen. In die moderne, an das Gesprochene angenäherte Sprache wurden zu der Zeit gelegentlich bereits Texte übersetzt, aber im Jahr 1887 war dies noch experimentell, und der Verein Rōmajikai hatte mit der Einführung der lateinischen Schrift ein anderes Anliegen. Stattdessen wurde ein Sprachstil gewählt, der der klassischen Grammatik folgt und eine Reihe von etwas veralteten Vokabeln und klassischen Ausdrücken verwendet, der den Übersetzern allerdings dichterische, klangliche Freiheiten ließ, die in der damaligen modernen Schriftsprache noch nicht gegeben waren. Diese an die Sprache der frühneuzeitlichen Erzählliteratur angepasste Ausdrucksweise ermöglichte es den Übersetzern, die durch Sprachwitz getragene Stimmung des Originals einzufangen und teilweise mit einer abweichenden Bildlichkeit, aber dennoch getreu zu übertragen.
2. Vorherrschende Übersetzungsstrategien
Die Schrift, die Gelehrsamkeit, der Buddhismus, Konfuzianismus, bestimmte Formen der Lyrik und der Prosa sind allesamt aus China (mit koreanischer Vermittlung) nach Japan gelangt. Die sprachliche Übertragung / Übersetzung hat in Japan daher eine lange Tradition, denn obgleich die schriftlichen Dokumente der Verwaltung, der Religion und der Gelehrsamkeit in chinesischer Schrift abgefasst waren, wurden sie als japanische Texte wahrgenommen: Den chinesischen Texten wurde eine japanische Lesung zugeordnet (kanbun kundoku), was dem interlinearen Übersetzen vergleichbar ist und heutzutage als eine Form der Übersetzung behandelt wird.
Darüber hinaus gibt es aber eindeutigere Formen der Übersetzung, allen voran die von vornehmlich lateinischen christlichen Texten im 16. und 17. und von lateinischen, holländischen und deutschen medizinisch-wissenschaftlichen im 18. Jahrhundert. Eine noch größere Bedeutung spielte in der frühen Neuzeit allerdings die Adaption (hon’an) insbesondere literarischer Texte aus dem Chinesischen, die nicht nach genauer Entsprechung der Ausgangs- und der Zieltexte strebte, sondern Inhalte von der chinesischen Kultur in die japanische verpflanzte, oftmals mit einem Wechsel des Schauplatzes, der handelnden Personen und der Zeit. Die interlineare und damit textgetreue Übersetzung (bes. kanbun kundoku, aber auch ranbun kundoku, eibun kundoku, d. h. interlineare Übersetzung holländischer, englischer Texte) kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Übersetzungen aus westlichen Sprachen (Russisch, Englisch, Deutsch, Französisch), die ab den 1870er Jahren mit einem Schlag eine hohe Zahl erreichten, sind zwar nahe an unseren modernen Übersetzungsidealen, hatten aber mit einem großen Problem zu kämpfen: In welche Sprache sollen sie übersetzen? Ins Sino-japanische oder ins Japanische, wenn ins Japanische, dann stellt sich die Frage, ob klassisch oder modern, in welchen Sprachstil? Darüber hinaus ist die Vermittlung in Japan unbekannter Inhalte, insbesondere Realien, sozialer, religiöser, politischer Werte, Einstellungen, die teilweise auch nur implizit in den Ausgangstexten angelegt sind, eine große Herausforderung.
3. Die Frage der Schrift, Ansätze zu Schriftreformen
Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit der ersten japanischen „Max und Moritz“-Übersetzung ist das der Schrift. Nach der Meiji-Restauration und Öffnung des Landes (1867) flammte die Diskussion auf, ob die chinesischen Schriftzeichen nicht ein Hindernis auf dem Weg der allgemeinen Bildung, der politischen und bürgerlichen Volkserziehung und für die Übernahme westlicher Denkmodelle sei. Mit dem Aufkommen von Zeitungen, Zeitschriften, politischen Organisationen, der Idee der Bürgerbeteiligung war die Vermittlung politischer und sozialer Inhalte als eine wichtige Voraussetzung für die Modernisierung Japans in den Vordergrund gerückt. Das Erlernen der Schriftzeichen ist tatsächlich sehr zeitintensiv, bindet Energien, die nach Ansicht mancher meiji-zeitlicher Aufklärer besser in das Studium der Inhalte zu investieren wären. Die Kenntnis von Schriftzeichen war in dieser Zeit nur einem geringeren Teil der Bevölkerung in dem Maße zugänglich, wie es für die Verbreitung von Wissen nötig gewesen wäre. Um die Schranke zwischen den Eliten und der durchschnittlich gebildeten Bevölkerung zumindest herabzusetzen, wurden ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts folgende Lösungen propagiert: Abschaffung der chinesischen Schriftzeichen und Schreiben nur mit den japanischen Silbenschriftzeichen; Einschränkung der Zahl der gebräuchlichen chinesischen Schriftzeichen sowie eine gewisse Vereinfachung der Zeichen ‒ diese Linie hat sich letzten Endes durchgesetzt ‒; und die Übernahme des lateinischen Alphabets (sog. rōmaji, „römische Zeichen“) anstatt der japanischen Mischschrift.
Die erste „Max und Moritz“-Übersetzung gehört in den Kontext dieser letzten Bewegung, die im Dienste der Volkserziehung und der bürgerlichen Beteiligung am öffentlichen Leben das Schriftsystem radikal vereinfachen wollte. Die Wiedergabe des Japanischen, das über ein relativ einfaches Lautsystem und im Gegensatz zum Chinesischen über keine Töne verfügt, ist mit lateinischen Buchstaben sehr gut möglich. Dass sich diese Lösung nicht durchsetzen konnte, hat verschiedene Gründe. Neben den kulturellen Beharrungskräften wie der Bindung an die eigene Schrifttradition waren die zahlreichen Homonyme des Japanischen, die erst über die Schreibung mit chinesischen Schriftzeichen eindeutig zu identifizieren sind, definitiv ein Hindernis. Im Kontext lassen sich Homonyme zwar unterscheiden, aber ihre große Zahl ist im Japanischen ein Problem. Politisch-ideologische Veränderungen während der Zeit der Bewegung, d. h. in den 1880er und 1890er Jahren, die nach der begeisterten Aufnahme westlichen Gedankenguts eine gewisse Abwendung vom Westen mit sich brachten, haben zudem dazu beigetragen, dass diese radikale Schriftreform verhindert wurde. In Bezug auf das „Wampaku monogatari“ bleibt festzuhalten, dass die Präsentation eines japanischsprachigen Textes in lateinischer Schrift einen stark verfremdenden Effekt hatte, gleichzeitig war die benutzte Sprache eine für die damalige Leserschaft sehr vertraute und eingängige. Die Textanalyse versuchte nun Antworten auf die Frage zu finden, welche Wirkung aus dieser Spannung zwischen vertrauter Erzählsprache und ungewohnter Notation entstand?
4. Textanalyse
In der Textanalyse wurden im Vortrag folgende Themen anhand von Beispielen erläutert:
- Sprachliche Besonderheiten der japanischen Übersetzung: Während die vier Streiche im Ganzen im Sinne der Adaption getreu wiedergegeben sind, ist bei näherer Betrachtung des Textes an einzelnen Stellen eine große Entfernung vom Original zu konstatieren, insbesondere in der gewählten Bildlichkeit. Bei der Lektüre des japanischen Textes besticht die Verbindung der klassischen Grammatik mit einer Reihe alltagssprachlicher Vokabeln, wodurch eine gewisse Komik entsteht, aber auch der Rhythmus, der durch die Aneinanderreihung von sieben- und fünfsilbigen Zeilen entsteht und der dem klassischen episch-lyrischen Erzählstil entspricht.
- Übertragung von Eigennamen, Berufen, Realia, religiösen Begriffen: Während Eigennamen durchgängig japonisiert sind, wurden die Berufe, da sie den japanischen zumindest vergleichbar waren, beibehalten. Einige Vokabeln aus dem Bereich der Speisen oder des sozialen Umgangs sind angepasst worden, und sogar Hinweise auf aktuelle Ereignisse in Japan sind in mindestens zwei Fällen in den Text eingearbeitet. Auffällig ist an der Übersetzung der Umgang mit dem abweichenden religiösen Hintergrund in der Ausgangs- und der Zielkultur, denn die Bilder werden allesamt aus dem konfuzianischen und buddhistischen Bereich bezogen. Die gute Witwe Bolte ist wie ein Buddha (hotoke no yô), ein gebräuchliches Attribut für Gutmütigkeit; für die getöteten Hühner wird eine buddhistische Seelenmesse (tsuizen) abgehalten; die Witwe Bolte, die leicht aus ihrem Schlaf erwacht, wird in dieser Hinsicht mit Konfuzius verglichen, dem ein sehr leichter Schlaf nachgesagt wird.
- Der Humor in der deutschen wie in der japanischen Fassung entsteht u.a. durch die Spannung zwischen der poetischen, rhythmisierten Sprache und dem Inhalt der Geschichte. Die Verwendung von einzelnen lyrischen oder in der gegebenen Zeit bereits veralteten, aber gehobenen Vokabeln unterstreicht zusätzlich die Distanz.
- Abschließend wurde kurz auf die Bedeutung der aus dem Original getreu in die Übersetzung übertragenen Zeichnungen von Wilhelm Busch eingegangen. Während die Sprache eine Annäherung an die Zielkultur anstrebt, vermitteln die Bilder auf direkte Weise eine westliche Welt, die der zeitgenössischen Leserschaft in manchen Punkten sehr fremd erschienen sein muss, wie die Kleidung, die Architektur, die Objekte, die Gesichter der Menschen.
Die gelungene Übersetzung erfüllt gleichzeitig mehrere Funktionen: Sie vermittelt den Humor des deutschen Textes und das Bild einer anderen Welt, in der für bösartige Streiche aufgelegte Kinder genauso vorkommen wie in der japanischen. Der eingängige Text, der sich auch zum Vorlesen hervorragend eignet, hilft dem Leser über die Fremdheit der Alphabetschrift hinweg und erreicht dadurch den didaktischen Zweck, diese Schrift zu popularisieren. Dass diesem Text eine große Verbreitung zuteil geworden wäre ist jedoch nicht belegt, sodass auch keine Aussagen über seine Wirkung in der Öffentlichkeit möglich sind.