Aus Katastrophen lernen, um die Folgen künftiger besser kalkulieren, abfedern oder sogar verhindern zu können. Das ist kein neuer Ansatz, was aber nicht zwingend bedeutet, dass diesem Vorsatz entsprochen wird. Im Gegenteil. Nach wie vor ziehen Naturkatastrophen, wie zuletzt das Erdbeben in der südlichen Türkei, Zerstörung und Tod nach sich. Und das in einem Ausmaß, das heutzutage durchaus vermeidbar wäre - das Wissen dafür ist ausreichend vorhanden. Woran aber wirksame Prävention letztlich häufig scheitert, dafür gibt es viele Gründe. Der Historiker Prof. Dr. Nicolai Hannig von der TU Darmstadt erforscht solche Gründe und untersucht in einem aktuellen, von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekt, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um sich gegen die Folgen von Katastrophen für Leib und Leben besser wappnen zu können. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Infolge der Privatisierung der Bauaufsicht wurden Architekturstandards nicht eingehalten"
L.I.S.A.: Herr Professor Hannig, zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählt neben anderen die Historische Risikoforschung. In diesem Zusammenhang haben Sie beispielsweise über Naturkatastrophen und deren Prävention in der Moderne publiziert oder auch über Katastrophenschutz im 20. Jahrhundert. In einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekt untersuchen Sie derzeit Wiederaufbaumaßnahmen unter dem Motto „build back better“, nachdem Gebäude und Infrastrukturen infolge von Naturkatastrophen zerstört wurden. Nun hat sich jüngst im südlichen Anatolien eine solche Naturkatastrophe ereignet. Das Erdbeben kostete viele Menschen das Leben und zerstörte ganze urbane Areale. Aus Ihrer Sicht als Historiker, der sich mit solchen Katastrophen und Vorsorgemaßnahmen beschäftigt – ist das Ausmaß der Katastrophe verhinderbar gewesen? Was wäre dafür nötig gewesen?
Prof. Hannig: Solch hypothetische Fragen sind für einen Historiker immer schwierig. Aber ja, vor dem Hintergrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema denke ich, dass das fürchterliche Ausmaß an Tod und Zerstörung durch das Erdbeben in der Türkei hätte verhindert werden können. Die Zeichen verdichten sich, dass infolge der Privatisierung der Bauaufsicht Architekturstandards in den Risikozonen nicht eingehalten wurden. Hinzu kommen große Zeitspannen, bis Rettungsdienste in den betroffenen Regionen ankamen. Das ist jedoch nicht unbedingt landesspezifisch, auch die Flutereignisse im Ahrtal hätten nicht so katastrophal ausfallen müssen. Das Wissen über verschiedene Bautechniken und -substanzen, um unterstützende Präventionsmaßnahmen, Risikogebiete und hilfreiches Agieren im Katastrophenfall selbst ist vorhanden. Es scheitert jedoch an dessen Umsetzung in die Praxis.