Adrian Franco/Julian Schellong: Am 24. Februar dieses Jahres hat Wladimir Putins Russland die Ukraine überfallen, seitdem verfolgen wir das Grauen und die Zerstörung. Sie kennen die Architektur in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum, haben über die Architekturgeschichte von Usbekistan geforscht und lehren seit 2018 an der National University of Urban Economy in Charkiw. Was ist das für eine Architektur in der Ukraine, die gerade unter Beschuss ist?
Philipp Meuser: Die Ukraine ist ein postsowjetisches Land und die UdSSR hat den größten Einfluss auf die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts gehabt. In den 1920er Jahren fing es mit dem Konstruktivismus an und ging über die Stalin-Ära bis zum letzten Kapitel zwischen Chruschtschow und Glasnost, als sich vor allem der industrielle Wohnungsbau durchgesetzt hatte. Bis heute leben 70% der Ukrainer*innen in Plattenbauten. Die Städte sind einerseits geprägt von der vorindustriellen oder vorrevolutionären Architektur, also der Architektur des russischen Zarenreiches (zu dem die Ukraine ja seit Ende des 18. Jahrhunderts gehörte), andere Teile sind stark sowjetisch geprägt. Trotzdem hat es die Ukraine immer wieder vermocht, eigene Architekturnarrative zu erzählen. Die Ukraine steht für die Kiewer Rus, dem mittelalterlichen Großreich in Osteuropa, und ihre Geschichte geht noch weiter zurück bis zu den Flusswikingern, die von Skandinavien aus bis zum Schwarzen Meer Handel betrieben haben. Aus der Zeit der Kiewer Rus finden Sie überall Kirchen und Klöster in der Ukraine. Die Landwirtschaft war prägend für die Ukraine. Einen Modernisierungssprung von der ruralen Gesellschaft hin zu einer urbanen Gesellschaft erfolgte erst im 20. Jahrhundert unter der sowjetischen Führung. Die Architektur seit der Unabhängigkeit – in den vergangenen 30 Jahren – würde ich als "turbokapitalistisch" bezeichnen. Der Staat hat sich komplett herausgezogen aus dem Wohnungsbau, jeder Oligarch konnte bauen, was er wollte. So sehen die Häuser auch aus: mit viel Spiegelglas und mit Materialkombinationen, die wir in der Architektur bis dato gar nicht kannten. Es ist ein Spiegelbild der Transformation dieses Landes.
Wir wissen auch, dass die Ukraine gebraucht hat, um das Erbe der Sowjetunion zu verarbeiten: Nach der Krim-Annexion wurde das "Dekommunisierungsgesetz" verabschiedet, was bedeutete, dass im öffentlichen Raum Zeichen aus der Sowjetunion verschwinden oder vernichtet werden sollten. Wir Architekten haben uns da gefragt: „Was reißt ihr für Bauten ab? Warum verdeckt ihr Mosaike aus der Sowjetzeit? Das ist doch ein baukulturell wichtiger Beitrag gewesen!“ Das war eine ideologische Selbstreinigung, die auf Kosten von architektonisch wertvoller Bausubstanz gegangen ist.
Um es zusammenzufassen: Wenn Sie über die Architektur in der Ukraine sprechen, sprechen Sie über ein ambivalentes Verhältnis zum 20. Jahrhundert. Wir erleben heute eine Renaissance der ukrainischen Architektur, die bis weit in das frühe Mittelalter zurückgeht. Und es gibt auch den Versuch, eine moderne Architektur zu denken und zu realisieren.
AF/JS: Haben sich die Themen der militärischen Bedrohung und Sicherheit und des Bevölkerungsschutzes schon in der Architektur in der Ukraine niedergeschlagen? Gibt es so etwas wie Kriegsarchitektur?
Philipp Meuser: Nein, die gibt es nicht. Es gibt heute keine Planung oder den Bau von Fortifikationen wie noch im späten 18. Jahrhundert. Die Waffen sind andere geworden: In dem hybriden Krieg, den Russland in Europa führt, geht es nicht darum, Gebäude zu zerstören, sondern es geht um die Zerstörung von Infrastruktur. Aber es hat in der Ukraine seit der Sowjetunion bis heute in der Bauordnung immer die Vorgabe gegeben, dass Luftschutzkeller errichtet werden müssen oder Flächen wie Tiefgaragen als Schutzräume ausgewiesen werden. Architekt*innen in der Ukraine denken darüber nach, dem israelischen Beispiel zu folgen: Dass es in der Wohnung Bereiche gibt, vielleicht angelehnt an die Treppenhauskerne oder an die Aufzugskerne, mit besonderer Betonstärke und ohne Fenster. Bei einem Alarm können Sie dann in der Wohnung bleiben und brauchen nicht im Schlafanzug in den Keller oder die Tiefgarage gehen. Die permanenten Luft- oder Alarmsirenen führen dazu, dass die Leute sie irgendwann nicht mehr erst nehmen. Deshalb ist es umso wichtiger, innerhalb der Wohnung ein Refugium zu schaffen. Aber man kann ein Wohngebäude nicht gegen Raketentreffer schützen, das können Sie nur bei besonderer militärischer Infrastruktur – mit hohem finanziellem Aufwand und ohne Aufenthaltsqualität, wie wir es uns für Wohngebäude wünschen.
AF/JS: Wie hat sich die Unterbringung der Bevölkerung unter den Bombardements der vergangenen Monate verändert?
Philipp Meuser: Die Unterbringung von Flüchtlingen ist in der Ukraine unsichtbarer, als es bei uns in Europa der Fall ist. Ich habe es persönlich so wahrgenommen, dass viele Menschen bei Verwandten und Freund*innen untergekommen sind. Bei den Sofortmaßnahmen haben NGOs und vor allem zivilgesellschaftliche Gruppen leerstehende Wohnheime, auch Schulen, zur Verfügung gestellt. Dass sofort Container aufgestellt werden oder Zeltstädte entstehen, wie wir es aus anderen Katastrophen kennen, habe ich nur vereinzelt gesehen. Man muss feststellen, dass die meisten Binnenflüchtlinge unter schlimmsten Umständen leben. Stellen Sie sich bitte vor, Sie leben in einer Zweizimmerwohnung irgendwo in Lwiw und nehmen eine dreiköpfige Familie auf. Das kann man für ein paar Wochen machen, oder vielleicht geht das auch ein paar Monate, aber irgendwann einmal kommt der Punkt, dass es zu viel wird.
Und ich glaube, jetzt kommen wir in eine kritische Phase: Wenn sich diese temporären Lösungen zum dauerhaften Zustand entwickeln, wenn der Nothilfecontainer in eine permanente Nutzung übergeht, kann das ein großes Problem werden. Für uns heißt das: Wenn wir temporäre Flüchtlingsunterbringungen bauen möchten, müssen wir gleich an die Nachnutzung denken. Deshalb ist es wichtig, dass jede Flüchtlingsunterkunft geplant wird. Man muss sich davon verabschieden, dass man in ein Depot fährt, die Container herausholt und auf den nächstbesten Fußballplatz stellt. Man muss das im Vorfeld, vor einem Krieg oder einer Naturkatastrophe, planen. Wenn die Tragödie eingetreten ist, haben Sie keine Zeit mehr zum strategischen Denken; dann können Sie nur noch operativ handeln.