Der Topos von der sogenannten digitalen Transformation der Gesellschaft (vgl. Baecker 2018, S. 61) ist als weltweites Phänomen ubiquitär. Die Tatsache, dass sich Gesellschaften und ihre kulturellen Praktiken (strukturell) wandeln, ist im Prinzip keine neue Erscheinung. Der Digitalisierung – insbesondere dem militärischen ‚Abfallprodukt‘ Internet – wird jedoch ein Veränderungspotenzial zugestanden, das sich auf sämtliche individuelle und gesellschaftliche Bereiche erstreckt. Kommunikation, Bildung, Wissenschaft, Warenproduktion, Dienstleistungen, Haushalt, Kultur, Unterhaltung, Freundschaft, Liebe, Einkaufen, Reisen und auch Kriminalität …, nichts ist mehr, wie es vorher war (vgl. Simanowski 2017). Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) verändert das ökonomische, soziale, politische und kulturelle Leben mit einer Intensität und Geschwindigkeit, die im historischen Vergleich – etwa mit der Verbreitung typografischer Schriftlichkeit und/oder der Geschichte der Industrialisierung – als revolutionär bezeichnet wird (Stichwort ‚vierte industrielle Revolution‘, vgl. u.a. Floridi 2015; Schwab 2016; Precht 2018). Das digitale Leitmedium eröffnet einen neuen kulturellen Möglichkeitsraum („Kultur der Digitalität“, Stalder 2016), der die vormals dominante „Buch- und Industriekultur“ (Giesecke 2002) zunehmend überformt. Andererseits war die moderne Gesellschaft in ihrer Grundstruktur auch schon vor der allgemeinen Ausbreitung von IKT digital, binär codiert und datenbasiert; die neuen Techniken der Datenverarbeitung führen jedoch zu einer Art Verdoppelung der Gesellschaft, was sich auch auf ihre Sinnverarbeitungsregeln auswirkt (vgl. Nassehi 2019).
Adressiert der Begriff der Digitalisierung vornehmlich den Prozess der Überführung von vormals analogen Verfahren in digitale Sachverhalte, nimmt das Konzept der „Kultur der Digitalität“ verstärkt die sich wandelnden Prozesse der Sozialität, Kommunikation, Interaktion, Kollaboration und Partizipation in den Fokus. Die einst für den kulturellen Raum dominante Bedingung druckgrafischer Schriftlichkeit wird abgelöst durch die neue Bedingung der Digitalität, die geprägt ist durch drei Grundmuster der Generierung von Kultur als geteilte Bedeutung bzw. Ordnung (vgl. Stalder 2016, S. 95 ff.): (1.) Die durch die Digitalisierung vergrößerte Vielfalt der (z.T. auch immersiv) verfügbaren Referenzen macht es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, dass die ‚User:innen‘ ihr jeweils eigenes Bezugssystem erstellen, um die vielen auf sie einströmenden Zeichen, Texte, Bilder und Videos in einen konkreten Bedeutungszusammenhang zu stellen (Referenzialität). Dieser Referenzrahmen bestimmt wiederum das jeweils eigene Verhältnis zur Welt und die subjektive Position in ihr mit. (2.) Referenzialität ist dabei stets als produktive Leistung („Produsing“, Bird 2011) anzusehen, die nur in Gemeinschaft mit anderen vollbracht werden kann (Gemeinschaftlichkeit). Häufig vollzieht sie sich in den Sozialen Medien, mit denen sich die Nutzer:innen (z.B. durch likes oder feeds) ihre durch Auswahl bestimmter Arte- und Mentefakte generierten Bedeutungszuschreibungen gegenseitig validieren. (3.) Dabei werden die Nutzer:innen nicht nur von anderen ‚User:innen‘, sondern auch von maschinellen bzw. automatisierten Entscheidungsprozeduren geleitet, die das Nutzerverhalten systematisch auswerten und auf Basis der Auswertungsergebnisse Vorschläge für weitere Auswahlprozesse und damit zugleich für neue Bedeutungszuschreibungen unterbreiten (Algorithmizität).
Die Feststellung des außergewöhnlichen Wandlungspotenzials durch die Digitalisierung über eine neue Kultur der Digitalität bis hin zu einem „Digitalismus“ als Ideologie (vgl. Rhode-Jüchtern 2020) impliziert allerdings nicht, dass die Ankunft von etwas Neuem an sich bereits gesellschaftlichen Fortschritt garantiert (vgl. Blumenberg 1967/2009). Vielmehr geht mit der digitalen Technikentwicklung auch ein gewisses Unbehagen einher, das als Teil einer seit der Industrialisierung bestehenden Kultur- und Zivilisationskritik verstanden werden kann und bisweilen in einer dystopischen Dämonisierung des ‚zweiten Maschinenzeitalters‘ mündet (vgl. Soltau 2017). Der digitale Wandel sollte jedoch nicht missverstanden werden als etwas, das ‚von außen‘ wie eine Naturgewalt auf die Gesellschaft einwirkt. Schließlich sind es weiterhin Menschen, die handeln. Die Digitalisierung ist nicht nur Triebkraft, sondern auch ein noch evolutionär offenes Produkt kapitalistischen Wirtschaftens; sie ist sozusagen eine rekursive Produktivkraft, die zugleich auf die sie hervorbringenden Gesellschaften und deren Teilsysteme mit immenser Dynamik zurückwirkt. Oder, um es in kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit zu sagen: Sie ist Produkt und Agens zugleich. Die ‚Digitalisierung‘ ist zwar kein autonomes Subjekt, aber doch angesichts ihres instrumentellen Doppelcharakters eine Kreativität fördernde Antriebskraft gegenüber den Trägheitsmomenten bestehender sozio-kultureller Strukturen. Kurzum: Digitalisierung und Digitalität sind weder ein Naturphänomen oder ein reines Technikproblem noch folgen sie irgendwelchen Naturgesetzen; eher sind sie „ein intrinsisches Problem“ menschlicher Rationalitätsstrukturen (Müller 2008, S. 99), das den nicht erst seit der Etablierung der sogenannten klassischen Massenmedien andauernden Mediatisierungsprozess kommunikativen Handelns von Gesellschaften noch einmal mehr beschleunigt (vgl. Krotz 2007; 2012; 2017).