Das Projekt „Asking the Pope for Help“ von Prof. Dr. Hubert Wolf und seinem Team an der Universität Münster erforscht die Bittschreiben jüdischer Menschen, die diese in ihrer Not während der Shoah an Papst Pius XII. und die Kirche gerichtet haben. Neben diesen Petitionen werden auch die zu den jeweiligen „Fällen“ gehörenden Dokumente in den vatikanischen Archiven ediert und später umfangreiches didaktisches Begleitmaterial angeboten. Das Interview ist im Rahmen des Themenjahrs 2023/2024 „Die Digitalisierung der Religion“ am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster entstanden.
„Einzelschicksale, unmittelbar geschildert in hochemotionalen Ego-Dokumenten“
Was ist der Gegenstand Ihres DH-Projektes am Exzellenzcluster und welche Frage soll es mittels DH-Methoden beantworten?
Rund 15.000 jüdische Menschen aus ganz Europa haben während des NS-Regimes Papst Pius XII. und den Vatikan um Hilfe gebeten. Sie schrieben vorwiegend auf Italienisch, Deutsch und Französisch, aber auch in nahezu allen anderen europäischen Sprachen. In hochemotionalen Ego-Dokumenten schildern die Menschen ihre Lebensgeschichte, ihre Not und das ihnen angetane Leid, aber auch ihre Handlungsspielräume während der Shoah. Ihre Briefe waren bisher unbekannt und liegen in den Akten aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939-1958) in verschiedenen vatikanischen Archiven. In einem von der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ (EVZ) geförderten Projekt werden die bis jetzt bekannten rund 6.000 Bittschreiben und die dort erwähnten 15.000 Personen identifiziert und in einer digitalen Edition open access zugänglich gemacht. Bisher sind circa 2.000 Bittschreiben erfasst, die ab Mitte 2024 unter www.askingthepopeforhelp.de zur Verfügung stehen werden. Im Rahmen eines Teilprojekts am Exzellenzcluster werden die Bittschreiben und die dazugehörige Korrespondenz aus Rumänien und Brasilien unter besonderen Fragestellungen untersucht.
Da in den Briefen die gesamte Vielfalt des „Jüdisch-Seins“ der damaligen Zeit deutlich wird, werden wir uns außerdem auf die Zugehörigkeiten der Bittsteller im Sinne des Forschungsparadigmas ‚Belonging‘ fokussieren. So waren einige jüdisch-stämmige Menschen getauft und verstanden sich vorrangig als Katholiken, andere bekannten sich ausdrücklich zum Faschismus und wurden dennoch als Juden verfolgt. Diese Selbst- und Fremdbeschreibungen, die aus den Dokumenten deutlich werden, werden wir mittels Methoden der Digital Humanities analysieren und zueinander in Beziehung setzen.
Mit DH-Methoden werden wir nicht nur eine, sondern eine Fülle von Fragen beantworten können. Das fängt ganz klein an: Wie viele Briefe gibt es? Welche Briefe wurden beantwortet und welche einfach abgelegt, ohne dass etwas unternommen wurde? Welche Briefe wurden dem Papst vorgelegt und wie viele? … Und es geht groß weiter: Wie vielen jüdischen Menschen half der Heilige Stuhl zwischen 1939 und 1945? Wie half er? Aus welchen Ländern kamen die Menschen, waren alle getauft? Fühlten die Menschen sich als Juden oder als Katholiken? Welche Emigrationsrouten nutzten sie während ihrer Flucht? Kurz: Durch diese Dokumente erfahren wir Neues zur Haltung Pius’ XII. zum Holocaust sowie zur Organisation und Funktionsweise der Römischen Kurie. Wir vollziehen dabei mit dem Projekt einen Paradigmenwechsel weg vom Papst, der in seinen Handlungsmöglichkeiten von den Vorarbeiten seiner Mitarbeiter abhängig war, hin zu den Entscheidungsfindungsprozessen in der Kurie und den involvierten Orden.