Frühneuzeitliche urbane Öffentlichkeit war geprägt von „fliegenden Blättern“ in allen Variationen – Flugpublizistik im weitesten Sinne. Obwohl mehrblättrige Flugschriften, obrigkeitliche Einblattdrucke, illustrierte Flugblätter, selbst handgeschriebene „Zettelchen“ wortwörtlich durch die Straßen der Städte flogen und so das Meinungs- und Politikklima maßgeblich beeinflussten, wurde sich bislang nicht mit der Vielzahl an Kleinpublikationen gebührend auseinandergesetzt. Die Vielzahl an frühneuzeitlichen Flugdrucken gehört zu den vergessenen Quellen des Alten Reiches. Als ein Grund für die wissenschaftliche Nichtbeachtung der losen Blätter, sind die Archivprozesse anzusehen, die die gerne mit Diminutiv versehenen „Blättchen“ und „Schriftlein“ marginalisierten, sowie unsystematisch aufnahmen. Ein anonymes oder pseudonymes, häufig undatiertes, ungebundenes und „kontextloses“ Papierstück im Quartformat stellte nämlich nicht nur Generationen von Archivaren vor Probleme.
Meine Dissertation widmet sich der Flugpublizistik und kann aufzeigen, dass mit den teils fingierten, anonymen und pseudonymen Publikationen Öffentlichkeit von einer Vielzahl von Akteuren opportun organisiert, wenn nötig inszeniert, teilweise kämpferisch behauptet oder auch korrigiert wurde. Als papiernen Gegenwartsbeschleunigern kam Flugpublizistik in urbanen Räumen um 1700 eine Verstärkerfunktion zu: als mediale Impulse dynamisierten Flugdrucke die beobachtete und kommentierte innerstädtische Politiksphäre, da sie räsonnementanregend auf illiterati und literati wirkten. Auf Basis eines Quellenkorpus von rund 600 Flugdrucken, das im Medienverbund samt deren Akteuren kontextualisiert wird, leistet die Dissertation einen Beitrag zur Historisierung des Öffentlichkeitsbegriffes der Frühen Neuzeit. Städtische Öffentlichkeit um 1700 skizziert sich hiernach als ein mit Stadtmauern umgebenes mediales Räsonnierforum, auf das Flugpublizistik aktivierend einwirkte und darüber hinaus innerhalb dieser Resonanzräume für ein effektives vielschichtiges Echo sorgte.
Literatur des Verfassers hierzu:
Die vergessenen Quellen des Alten Reiches. Ein Forschungsüberblick zu frühneuzeitlicher Flugpublizistik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Astrid Blome, Holger Böning (Hrsg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 36), Bremen 2008, 77-95.
„Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der Historischen Presseforschung“. Ein kommentierter Tagungsbericht, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 10 (2008), 134-149.
„Lateinische Zeddel“ in der Reichsstadt Köln (1708). Signale, Diskurse und Dynamiken im öffentlichen urbanen Raum der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Köln 56 (2009), 207-237.