Das Forschungsprojekt
Der zunehmende Nationalismus sowie der gesellschaftliche und technische Wandel veränderten seit dem späten 19. Jahrhundert grundlegend nicht nur die Formen der Kriegsführung, sondern auch das System der internationalen Beziehungen. In Europa und in den USA initiierte dies einen Prozess der Professionalisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung der militärischen Nachrichtendienste und des von ihnen betriebenen Erfassens, Sammelns und Auswertens von Informationen. Großbritannien und die USA waren die ersten demokratischen Länder, in denen eine moderne Nachrichtendienststruktur entstand und deren Gesellschaften einen öffentlichen Diskurs über Military Intelligence führten. Das Deutsche Reich hatte abweichende militärische Traditionen und war später als nationalsozialistische Diktatur vollkommen anders geprägt.
Im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Sönke Neitzel, Prof. Dr. Philipp Gassert und Prof. Dr. Andreas Gestrich steht die Entwicklung der militärischen Nachrichtendienste in Deutschland, Großbritannien und den USA ausgehend von den Anfängen einer modernen Nachrichtendienststruktur Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Höhe- und Endpunkt einer ersten Entwicklungsphase moderner Nachrichtendienste. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich im Zusammenspiel nationaler Geheimdiensttraditionen, jeweiliger kultureller Repräsentationen der Geheimdienste in Literatur und Medien sowie der Praxis nachrichtendienstlicher Arbeit nationale Intelligence-Kulturen herausbildeten. Unter einer »Kultur der Nachrichtendienste« werden dabei spezifische Formen der Organisation, Struktur und Zielsetzungen der Dienste sowie ihrer strategischen, operativen und taktischen Arbeit verstanden, die in innergesellschaftlichen Diskursen ausgehandelt werden. Die Aktivitäten der Nachrichtendienste werden nicht nur als Produkte militärischer Zwecküberlegungen analysiert, sondern sollen im Kontext mit gesellschaftlichen Diskursen betrachtet werden. Dabei soll erstmals auch danach gefragt werden, inwiefern und in welchen Bereichen es national übergreifende Muster geheimdienstlicher Diskurse und Praktiken gab, beispielsweise als Folge transnationaler Interaktion bzw. wechselseitiger Wahrnehmung.
In einer ersten Projektphase untersuchen drei Doktoranden den öffentlichen Diskurs über die Geheimdienste in Deutschland, Großbritannien und den USA in den Massenmedien, der zeitgenössischen Populärkultur (spy novels) und der Militärpublizistik. Leitfragen beziehen sich auf den Stellenwert der Geheimdienste in Gesellschaft und Militär, Personifizierungen im Kontext von Expertenkulturen sowie die jeweiligen Erkenntnisinteressen, Informationsquellen und Methoden. Auf der Grundlage der dabei erzielten Forschungsergebnisse möchten die Projektleiter in einer zweiten Phase die Wechselwirkungen zwischen Öffentlichkeit und nachrichtendienstlicher Praxis vergleichend erarbeiten und überprüfen, inwieweit sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezifische Intelligence-Kulturen herausgebildet haben. Am Beispiel der Military Intelligence sollen Wechselwirkungen zwischen Militär, Verwaltung, Staat und Gesellschaft sowie die Bedeutung der damit einhergehenden Weltbilder und Deutungen aufgezeigt werden. Der internationale Vergleich soll helfen zu verstehen, wie sich die Diskurse in Teilen der Gesellschaft und Fachkreisen auf der einen Seite und die geheimdienstliche Praxis auf der anderen Seite national spezifisch entwickelten und wie zugleich durch transnationale Interaktion national übergreifende Muster entstanden.
Ziel des Forschungsprojekts ist es, die erste komparative Kulturgeschichte der militärischen Nachrichtendienste vorzulegen, in der die Entwicklung der Intelligence systematisch in ihre bislang vernachlässigten soziokulturellen Kontexte eingebettet wird. An der Schnittstelle von Militär-, Diplomatie-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte soll die Tragweite kulturgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen für die historische Erforschung von Geheimdiensten und militärischen Organisationen exemplarisch erprobt werden. Umgekehrt werden am Beispiel der Military Intelligence die konkreten Beziehungen zwischen kulturellen Repräsentationen, Deutungen und Wahrnehmungsmustern einerseits und individueller, lokaler und institutionalisierter Praxis andererseits untersucht. Die zu erwartenden Ergebnisse versprechen darüber hinaus, einem bisher überwiegend von Institutionen- und politikgeschichtlichen Ansätzen geprägten Forschungsfeld neue Impulse zu verleihen.
ProjektleitungProf. Dr. Sönke Neitzel
Prof. Dr. Philipp Gassert
Prof. Dr. Andreas Gestrich
OrtLondon; Augsburg
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Geheimdienstarbeit beschränkt sich doch nicht nur auf Abhören von Kriegsgefangenen.
Als würden Geheimdienst"kulturen" wie jene rund um den NSU und zahllose weitere vom "heiteren Himmel" fallen. Wenn schon Helmut Schmidt, der Kenner des RAF-Terrorismus der 1970er Jahre, von Staatsterrorismus spricht, dann wird doch da etwas dahinter stecken. Wer wenn nicht Geheimdienste soll denn diesen Staatsterrorismus betreiben? Und damit hätten die erst in den 1970er Jahren begonnen? "Setting Europe Ablaze" heißt doch schon ein älterer Buchtitel über den britischen Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Und es ist längst bekannt, dass sich die damalige britische Kriegsführung nicht nur gegen Hitler und den Nationalsozialismus richtete, sondern seit 1941 jenes "Sovietising East Germany" bis zur Elbe betrieben hat, dass dann auch 1945 eingetreten ist mit all den sattsam bekannten Folgen.
Und wo doch sogar schon amerikanische Untersuchungsausschüsse längst herausgearbeitet haben, wie der CIA weltweit arbeitet, und dass das bestimmt nicht glattpoliert werden kann unter der allgemeinen Begrifflichkeit einer "Geheimdienstkultur". Wie kann man verbrecherische Strukturen überhaupt mit einem Begriff wie "Kultur" benennen?
Nicht nur der britische Geheimdienst ist nicht nur aber auch im Zweiten Weltkrieg verantwortlich beispielsweise für eklatante politische Morde. Etwa an Sikorski. - "Kultur"?
Die Rolle von Menschen wie Canaris, Schellenberg und anderen ist doch selbst heute noch viel zu ungeklärt ("Patrioten im Zwielicht"), als dass über sie und die von ihnen mitbestimmten "Geheimdienstunkulturen" auch nur zu einem halbwegs abschließenden Urteil gelangt werden könnte. Ach, übrigens: Für die Gestapo möchte man also auch eine "Geheimdienstkultur" herausarbeiten? Nun, das würde passen zu der Tatsache, dass ein wesentlicher Mitakteur in der Aufarbeitung der Geschichte der Gestapo, Werner Best, bis zu seinem Lebensende in Deutschland nicht vor Gericht gestellt wurde. Ganz sicherlich, weil er ganz hübsche, niedliche "Geheimdienstkultur" "kultiviert" hat.
Übrigens: Wenn etwa der deutsche militärische Geheimdienst unter Canaris, von Roenne und Speidel für den Westen gearbeitet hat (wofür es inzwischen nun wirklich viele Hinweise gibt) - warum hätte er dann die Kriegsgefangenen abhören sollen?
Schon über die Frage, für welche Seite die eigentlich gearbeitet haben, besteht doch heute gar keine Einigkeit mehr in der Wissenschaft. Wenn sogar ein Heinrich Himmler fähig war, den 20. Juli zu tolerieren.
Aber vielleicht waren das ja auch alles nur "Schlafwandler". Wie 1914.
Kommentar