Entsprechend meines Dissertationsthemas zu Spuren bewaffneter Konflikte besuchte ich in erster Linie Veranstaltungen zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges. Aktiv nahm ich an der Sitzung „Body Parts and Parts of Bodies: The Traces of Violence in Cultures in Conflict“ teil, zu der Kolleginnen und Kollegen der Universität von Nevada aus Las Vegas (USA) eingeladen hatten. Dieses Institut profiliert sich unter der Leitung von Prof. Debra Martin seit einigen Jahren in der Untersuchung von Trauma an Skeletten aus archäologischen Zusammenhängen. Zwei Beiträge aus dieser Forschungsgruppe fassten die Analyse von Spuren, die durch Tracht und kosmetische Eingriffe an weiblichen Skeletten (Beitrag Pamela Stone) oder durch Folter (Beitrag Anna Osterholtz) verursacht wurden, zusammen.
Carlina de la Cova (University of South Carolina, USA) präsentierte einen weiteren Abschnitt ihrer Arbeit über spezifische Muster von Traumatisierungen in Skelettmaterial aus amerikanischen anatomischen Sammlungen des 19. Jahrhunderts. Zuvor hatte sie demonstriert, dass europäische Einwanderer häufiger Handverletzungen aus Boxkämpfen davontrugen, während diese Art sportlicher Konfliktaustragung unter Personen afrikanischer Abstammung nicht üblich war. Jetzt diskutierte sie anhand der weiblichen Individuen Traumatisierungen, wie sie häufig in den Hospitälern vorkamen, aus denen die Sammlungen ihr Material bezogen.
Eine Reihe von Fallstudien stellte Skelettmaterial bestehenden Forschungshypothesen gegenüber. Catherine Gaither (Metropolitan State College of Denver, USA) untersuchte an einem peruanischen Fundplatz Veränderungen in der Gewaltausübung gegen Minderjährige vor und nach der spanischen Eroberung. Gwen Robbins Schug (Appalachian State University, USA) widerlegte die bisherige Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens am südasiatischen Fundort Harappa. In einer Regionalstudie untersuchte Ryan Harrod (University of Nevada, Las Vegas, USA) schließlich mögliche Nachweise für eine „Pax Chaco“ während der Blütezeit eines Machtzentrums im Chaco Canyon in Colorado.
Ohne sich auf Informationen aus Skelettmaterial stützen zu können, gelang es Deni Seymour durch geschicktes Kombinieren unterschiedlichster archäologischer und historischer Quellen, das kolonialzeitliche Bild der O'odham Inidianer zu widerlegen, die als besonders unterwürfig und anpassungsfreudig dargestellt wurden. In einem anderen Fall konnten Cheryl Anderson und ihre Mitarbeitenden (University of Nevada, Las Vegas, USA) an Skelettmaterial eines Spanischen Fundorts Spuren von Misshandlungen einer lokalen Bevölkerung durch spanische Eroberer nachweisen, die bereits durch historische Quellen bekannt waren.
„Symbolische Kriegsführung“ ist ein beliebtes Thema in zusammenfassenden kulturanthropologischen Texten zu Krieg und Gewalt. Anhand eines Vergleichs frühmittelalterlicher irischer Sagas und Annalen auf der einen und Skelettmaterial aus zeitgenössischen archäologischen Fundkontexten auf der anderen Seite, konnte Rachel Scott (Arizona State University, USA) das Phänomen für diesen Zeitraum wahrscheinlich machen. Sie holte das Konzept auf diese Weise aus dem Bereich der ethnographischen Beobachtung heraus und gab eine Vorstellung davon, wie sich symbolische Kriegsführung strukturell äußern könnte. Ich selbst durfte einen Ausschnitt meiner Dissertationsarbeit zum frühmittelalterlichen Reihengräberfeld Lauchheim-Wasserfurche vorstellen, in dem ich die Variabilität von Traumafrequenzen in Abhängigkeit von Stichprobengröße und Materialerhaltung diskutierte.
Alle Beiträge einte ein weitgehend behutsamer Umgang mit dem Material, übertriebene Interpretationen auf schwacher Materialbasis kamen nicht vor. Reinhard Bernbeck (SUNY Binghampton, USA und Freie Universität Berlin), einer der drei Kommentatoren, die im Anschluss an die Sitzung die Ergebnisse resümierten, machte die Beobachtung, dass die beiden Beiträge über europäisches Material weniger Gewalttätigkeit sahen als jene über amerikanische Fundorte. Seiner Ansicht nach könne das nicht allein im Material selbst begründet sein, sondern müsse auch auf das regionale Forschungsumfeld zurückgehen. In der Tat äußerte sich ein weiterer Kommentator aus den USA, Richard Chacon (Winthrop University), vor allem erfreut darüber, dass viele Studien endlich mit dem Mythos der Friedfertigkeit indigener Bevölkerungen aufräumten. Bernbeck sprach darüber hinaus ein Forschungsdesideratum an: um Gewaltausübung in prähistorischen Bevölkerungen interpretieren zu können, müsse das Zwischenspiel struktureller und aktiver Gewaltausübung verstanden werden.