Dazu gesellen sich zwei kleine Einzelblätter aus französischen Stundenbüchern – eine Hirtenverkündigung bei Nacht und eine vielfigurige Kreuzigung, die man heute Bourdichon gibt, zusammen mit einer großformatigen Anbetung der Könige, die erst 2004 vom Louvre erworben wurde und als ein Teil des heute verstreuten Stundenbuchs von Ludwig XII. gilt (der durcheinander geratene Textkorpus liegt in der British Library, Ms. Royal 2 D XL, Einzelblätter befinden sich unter anderem in Bristol, Edinburgh, London (B.L. and V&A), Los Angeles (Getty) und Paris (Marmottan)). Nur zu gern hätte man hier auch das bedeutende Blatt mit der halbfigurigen Madonna gesehen, das 2005, allerdings vom Musée Cluny erworben wurde.
Ein – man möchte meinen – kaum bekanntes Evangelistenporträt aus dem Umfeld Colombes erstaunt ebenso wie eine bisher unbekannte Miniatur mit einer Hochzeitsszene, die nun dem Meister des Coeur d’amour épris (nach Paris, BnF, Ms. fr. 24399) zugeschrieben wird, einem anonymen Buchmaler, den man nach der Dichtung René d’Anjous nennt und nun in Angers vermutet. Das erstaunt nicht zuletzt deshalb, weil man nach der letzten großen Ausstellung im Grand Palais eigentlich meinen müsste, hier in der Nachfolge des Meisters von Moulins und damit im Bourbonnais angekommen zu sein.
Es scheint immer etwas trostlos, wenn man heute Sammlungen beschaut, in denen aus Büchern geraubte Bilder in großen schwarzen Vitrinen zusammengerückt werden, denn ihr eigentlicher Platz war ja der im Buch, der auch geholfen hätte, ihren Inhalt besser zu verstehen. Man muss schon im zweiten Raum beim großartigen Simon Bening und Giulio Clovio ankommen, um dieses Fehlen zu verzeihen; denn erst hier wird die Malerei auf Pergament wie ein kleines Tafelbild gestaltet, das auch ohne Buch und Text genügt.
Überwindet der Besucher aber den ersten Schrecken, den er angesichts der Platz füllenden, schwarzen Vitrinen vor schwarzer Wand überwinden muss, auf die nur wenige Zentimeter große Miniaturen oder Blätter gelegt sind, wird er dafür mit großartigen Bildwelten und Farbexplosionen belohnt, die man sonst nur über ein Buch gebeugt, erleben kann.
Die farbige Leuchtkraft des Mittelalters hat sich für uns heute fast allein in der Buchmalerei erhalten (sicher im Buch besser als auf dem Einzelblatt, das oft Spuren unschöner Handhabung trägt) und ebenso erstaunlich und vielfältig sind die Ideen, die Maler im kleinen Format umzusetzen pflegten.
Auf die italienischen Miniaturen, die man im 19. Jahrhundert in großen Mengen aus den dort üblichen riesigen Chorbüchern schnitt und in den Kunsthandel verkaufte, scheint diese Bezeichnung dann fast gar nicht mehr zu passen; mit mehr als 40 cm Höhe ist die Initiale von Lorenzo Monaco aus einem Antiphonar für Santa Maria degli Angeli (Florenz, nach 1396 entstanden und heute in der Biblioteca Laurentiana, f° 3, Cod. Cor. I) schon so groß wie ein kleines Tafelbild. Die drei Marien am leeren Grabe mögen von einem monumentalen Vorbild inspiriert, die wunderbaren vegetabilen Ranken in Blau und Rot, die sich vom Buchstabenkörper aus um den Notenspiegel legen, große sGoldpunkte umfassen und zartes Blattwerk und Blütenkelche sprießen lassen, wird man so hingegen nicht in der Tafelmalerei finden.
Für Vertraute gibt es die größten Überraschungen, die man auf dem Weg zur Mona Lisa eigentlich nicht erwarten würde. So findet man zwei unscheinbare flämische Miniaturen in etwas düsterem Farbklang – ein jüngstes Gericht und eine Kreuzigung von gerade 6 cm Höhe – denen ein schillernder Gottvater zwischen Christus und Maria aus dem verbrannten Turiner Stundenbuch gegenübergestellt ist. Wer sich auf das Spiel der Inszenierung einlässt, stellt schnell fest, dass, von zwei verschiedenen Seiten kommend, das Umfeld eines der bedeutendsten Maler des 15. Jahrhunderts beleuchtet wird: Alle drei Miniaturen verraten den ganz unterschiedlichen Einfluss Jan van Eycks.
Großartig ist auch das Doppelblatt eines schwarzen Gebetbuchs, das für Karl den Kühnen bestimmt war; das eingefärbte Doppelblatt ist mit Silber- und Goldfarben beschrieben und bemalt und bietet einen ganz seltenen Anblick, denn nur drei solcher Luxusbücher, alle für das Haus Burgund angefertigt, befinden sich heute in öffentlichen Bibliotheken (New York und Wien; das Blatt im Louvre wiederum gehört zu keinem der drei).s
Viel wurde anlässlich der Ausstellung neu überdacht und der umfangreiche Katalog im Festeinband (stattliche 552 Seiten und herausgegeben von François Avril, Nicole Reynaud und Dominique Cordellier) widmet allen Miniaturen und Einzelblättern (einige vollständige Handschriften, wie das Alphabet der Maria von Burgund, sind auch dabei) im Louvre – auch jenen, die dann doch keinen Platz in der Ausstellung fanden – einen ausführlichen Beitrag und sicher auch Stoff für frische Diskussion zu den alten Stücken, die viel zu selten ins Bewusstsein treten.
Die Ausstellung mit Enluminures du Moyen Âge et de la Renaissance ist noch bis zum 10.10.2011 im Louvre (Denon) zu sehen.
Ein offizielles Carnet der Veranstalter mit Einführung und Werkliste findet sich unter http://www.louvre.fr/media/repository/ressources/sources/pdf/src_document_58290_v2_m56577569831302353.pdf