Der Start der neuen Fußball-Bundesligasaison war auch von der Frage bestimmt, wie es denn die gastgebenden Vereine in Zeiten von Corona mit dem Stadionbesuch halten. Geisterspiel oder kontingentierte Plätze? Wie in Deutschland in den vergangenen sechs Monaten immer wieder erlebt, fiel die Entscheidung von Stadt zu Stadt, von Verein zu Verein unterschiedlich aus: 8.500 Zuschauer in Leipzig, keine in Köln-Müngersdorf. Für den Literatur- und Kulturwissenschaftler, leidenschaftlichen Fußballfan und bekennenden Stadionliebhaber Hans Ulrich Gumbrecht, bis 2018 Professor für Komparatistik an der Stanford University, ist das Stadion - ob leer oder voll - ein ganz besonderer Ort, ein Ort der (potentiellen) Intensität, Hochstimmung und Gewalt. Einer der wenigen Orte, an und in denen Masse bzw. "crowd" als reale Ansammlung von Körpern noch erlebbar ist. Hans Ulrich Gumbrecht hat darüber zuletzt einen Essay veröffentlicht. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Ein Gefühl der Erhebung, der Hochstimmung, der Intensität, wie ich es sonst kaum erlebe"
L.I.S.A.: Herr Professor Gumbrecht, bereits in Ihrem Buch "Unsere breite Gegenwart" von 2010 haben Sie sich in einem Kapitel dem Stadionerlebnis im Sport gewidmet. Nun ist in der Coronazeit ein Essay erschienen, in dem Sie sich ausschließlich mit dem Stadion als Ritual von Intensität auseinandersetzen und dabei vor allem den Begriff der "Masse" in den Mittelpunkt rücken. Bevor wir zu einigen Details kommen, was begeistert Sie so sehr an Stadien - egal ob leer oder ausgefüllt? Was suchen und möglicherweise finden Sie in einer Arena des Sports?
Prof. Gumbrecht: Gar nicht so leicht zu sagen - es ist zuerst und vor allem das Gefühl eines tatsächlich unwiderstehlichen Angezogensein-Seins. Stadien sind - wenigstens in der zur globalen gewordenen westlichen Kultur - der einzige Ort, an dem wir Zeit in körperlicher Nähe zu zehntausenden anderen Menschen verbringen. Ich glaube, dass diese Nähe drei Dimensionen hat: wir sind mit unserem Körper "neben" anderen Körpern, ohne aber viel mit ihnen zu kommunizieren (eher verhalten wir uns zu ihnen so wie die Vögel in einem Schwarm zu anderen Vögeln). Wir sind gemeinsam und transitiv ausgerichtet auf das Stadionereignis (meistens "das Spiel"), ohne daran teilnehmen zu können. Und in ihrer Konvergenz bewirken die beiden ersten Dimensionen ein Gefühl der Erhebung, der Hochstimmung, der Intensität, wie ich es sonst kaum erlebe - und vor allem nicht suchen kann. Stadien sind institutionell und sehr sichtbar vom Kontext des Alltags abgesetzt und ausgenommen, um Ort solcher Intensität sein zu können. Deshalb sind auch leere Stadien - im Gegensatz zum "halbvollen Alltag" - Orte potentieller Intensität.
L.I.S.A.: Ihr Essay liest sich wie der Versuch, das Verständnis von Menschenmasse aus einer Tradition von durchweg negativen intellektuellen Zuschreibungen zu lösen, man könnte fast von einer Rehabilitierung der Masse sprechen. Sie zeigen, wie von Nietzsche über Le Bon, Freud, Ortega y Gasset bis zu Canetti und Sloterdijk die verachtete Masse eine der prägendsten Denkfiguren der westlichen Moderne war und ist. Wie erklärt sich entgegen dieser Verachtung, dass wir trotzdem immer wieder gerne in der Masse aufgehen, beispielsweise im Fußballstadion, aber auch bei Rock- und Popkonzerten? Ist das Erlebnis in der Masse der sehnsuchtsvolle Gegenentwurf zu einem Lebensstil, der sich stetig individualisiert und sich zunehmend in virtuelle Sphären verlagert?
Prof. Gumbrecht: Um genau auf Ihre Frage zu antworten: die Mehrheit der typischen (oder soll ich sagen: der "klassischen") Stadionbesucher liest keine intellektuellen Bücher und wird so auch nicht von ihnen irritiert. Der positive Wert, der hinter diesem immer wiederholten Motiv der Kritik der Massen steht, ist das Leben in Individualität. Als jemand, der die meisten Tage seines Lebens mit Schreiben verbringt, ist mir solche Individualität vertraut - aber ein Leben ohne Kontrastprogramme gegenüber der Individualität wäre kein lohnendes Leben für mich.
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