L.I.S.A.: Ihre These: Singularitäten und deren Logik des Besonderen lösen nach und nach die Logik des Allgemeinen als dominantes Paradigma ab, ohne dass dabei letzteres verschwinden würde, sondern vielmehr bilde es die Infrastruktur für die Entfaltung des Besonderen. Aber: Sind die von Ihnen ausgemachten Singularitäten nicht vor allem imaginierte Singularitäten? Soll heißen: Haben wir es angesichts einer Vereinheitlichung/Standardisierung von Produktionsprozessen, von Waren- und Güterkonsumption, von Narrativen, von Interpretationsmustern und kulturellen Praktiken nicht eher mit einem großen Trick zu tun, der Leute glauben lässt, sie hätten die Wahl aus einer Vielfalt an Gütern, Erzählungen, Deutungen und Lebensentwürfen usw.? Ein Beispiel: Es gibt zwar fünfzig verschiedene Smartphones, zwischen denen ich wählen kann, aber sie basieren letztlich alle auf derselben bzw. auf sehr ähnlichen Plattformen und Handlungsroutinen? Oder: Es gibt zwanzig verschiedene Automarken, doch Technik und Design gleichen sich zunehmend an usw. Sind die Singularitäten nicht vor allem gut gemachte Verpackungen von Imitationen?
Prof. Reckwitz: Zunächst einmal: Singularitäten sind immer sozial-kulturell fabriziert, sie sind nie einfach objektiv vorhanden, sondern liegen im Auge des Betrachters bzw. hängen von sozialen Bewertungsformen ab, die Entitäten als einzigartig interpretieren. Genau das gleiche gilt auch für die 'soziale Logik des Allgemeinen': auch allgemeingültige Merkmale sind soziale Konstruktionen. Das eine ist nicht grundlegender als das andere, beides sind miteinander konkurrierende soziale Bewertungsformen. Nehmen wir als Beispiel einen anderen Bereich, den der Subjekte (die alle in ihrer 'Infrastruktur' Exemplare des homo sapiens sapiens sind). Ein Subjekt wird in geregelten sozialen Kontexten der Moderne häufig als Rollenträger interpretiert, damit in der 'sozialen Logik des Allgemeinen'. Ist es aber ein Freund oder enger Verwandter, schreibt man ihm Individualität zu, Einzigartigkeit und 'entdeckt' eine Fülle von Komplexitäten in ihm oder ihr. Dieses Interesse am Besonderen des Anderen kann auch seit der Romantik in bestimmten Kontexten in extremer Weise gepflegt und ausdifferenziert werden. Aber auch das 'Allgemeine' muss erst fabriziert werden: dass alle Menschen unabhängig von Geschlecht und Ethnizität 'gleich' seien, war ein mühevoller Interpretationsprozess, der sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat.
Die Logik des Besonderen hat es in der Moderne von Anfang an gegeben, aber seit den 1970er Jahren hat sie sich deutlich intensiviert und ausdifferenziert. Eine tragende Säule ist der Wertewandel hin zu Selbstentfaltungswerten, vor allem in der neuen Mittelklasse, eine zweite die Ausdifferenzierung eines kulturellen Kapitalismus, der singuläre Güter fördert, ein dritter die Digitalisierung, vor allem mit ihrem Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Wichtig ist zu sehen, dass die spätmodernen Subjekte sich durch den kulturellen Wandel systematisch darin sensibilisieren, überall Singularitäten zu entziffern und zu erwarten: ob es die Begabung des Kindes ist, das Essen, die politische Bewegung, die berufliche Tätigkeit, das Reiseziel etc. Aber natürlich wird der Prozess dabei von der Ökonomie angeheizt, für die Singularitätsgüter ein unbegrenzter Wachstumsmarkt sind. Es ist charakteristisch, wie stark Singularisierung und Vermarktlichung miteinander verknüpft sind (auch wenn dies nicht zwingend ist).
Ob die Beispiele, die Sie nennen, singuläre Güter sind, würde ich übrigens offenlassen. Das hängt von den Konsumenten und ihren Beobachtungsformen ab. Sind Bob Dylan, Bjoerk und Michael Jackson nicht alle 'nur' Popsänger? Oder Bayern München, Hertha BSC und Athletico Madrid 'nur' alles Fußballvereine? Alles more of the same? Der Unsensibilisierte wird sagen, dass das so ist, aber fragen Sie mal die Fans und Kenner. Für diese sind das absolute Differenzen und irreduzible Eigenkomplexitäten. Und wenn die sozialen Teilnehmer etwas als singulär wahrnehmen, dann hat das soziale Konsequenzen.
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"Ich will den Begriff [Neoliberalismus], der ja seinen Wert hat, eigentlich retten, indem ich ihn wieder auf seine Kernbedeutung zurückführe: auf die neoliberale Politik, die Politik der Vermarktlichung, die zweifellos in den letzten Jahrzehnten prägend war."
Die Marktwirtschaft war ursprünglich nicht eine „freiheitliche“, sondern eine geregelte Ordnung (Spinoza, Hume, Smith, …), der Neoliberalismus ist ihr Verrat und Henker
Marktwirtschaft neue denken
http://marktwirtschaft-neu-denken.de/