Die Schleiermacherforschung und angrenzende Forschungszweige verfügen über eine neue Quelle: die Projektwebseite des Akademievorhabens "Schleiermacher in Berlin 1808–1834", angesiedelt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Die Seite wurde durch die Mitarbeiter des Akademievorhabens in enger Kooperation mit der TELOTA-Abteilung der BBAW realisiert und am 7. April 2016 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es handelt sich hierbei um den Startschuss für ein langfristig angelegtes Projekt, das Quellen des berühmten Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher aus den drei Bereichen Briefwechsel, Tageskalender und Vorlesungen für die Forschung zur Verfügung stellen wird. Dabei werden nicht einfach bereits bekannte Quellen in digitalisierter Form wiedergegeben, sondern in großen Teilen unveröffentlichte Dokumente den aktuellen Richtlinien der historisch-kritischen Edition und der digitalen Edition gemäß aufbereitet und zitierfähig präsentiert. Die Webseite bietet aufgrund der systematischen Erfassung von Metadaten umfangreiche Erschließungsfunktionen, ein durchsuchbares Personen-, Orts-, Werke- und Bibelstellenregister und ist anschlussfähig für ähnlich angelegte Projekte.
"Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen"
Projektwebseite des Akademievorhabens nun online
Besonders bemerkenswert hierbei sind die Tageskalender Schleiermachers, die erstmals und allein im Rahmen dieser Webseite publiziert werden, die für diese Art des Dokuments optimale Bedingungen bietet. So wird nicht nur ein einfacher Lesetext, sondern auch ein kritischer Text mit Anmerkungen (Text- und sukzessive auch Sachapparat) geboten, zu dem eine Faksimile- Ansicht zugeschaltet werden kann. Im Rhythmus einzelner Tage vermerkt Schleiermacher in seinen Tageskalendern Personen, mit denen er sich trifft, Vorlesungen, die er besucht oder selbst hält, Briefe, die aus- und eingehen, wichtige Predigten, die er hält, Orte, die er besucht und auch Reisen, die er unternimmt, - selbst der Empfang von Brennholz und der nach- mittägliche Spaziergang "Unter den Linden" wird vermerkt. Die Tageskalender bieten somit einen breit gefächerten Einblick nicht nur in die umfangreichen intellektuellen Beziehungen und Gesprächskreise Schleiermachers, sondern auch in mikrohistorische Ereignisse des sozialen und politischen Lebens dieser Zeit. Zunächst sind auf der Webseite die Jahrgänge 1808, 1809 und 1826 einsehbar, es existieren aber noch eine Reihe weiterer (1810, 1811 sowie zu dem von 1826 durchgehend von 1820 bis 1834), die teilweise mit umfangreichen Anhängen versehen sind. Die Tageskalender werden im Akademievorhaben von Wolfgang Virmond und Christiane Hackel bearbeitet und sukzessive auf der Website erscheinen.
Der Briefwechsel Schleiermachers wird zunächst als Druckausgabe im Rahmen der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe (KGA), Abteilung V, erscheinen. Die jüngst von Simon Gerber und Sarah Schmidt veröffentlichten Bände umfassen die Jahrgänge 1808 und 1809/1810. Auf der Webseite werden zunächst die Metadaten der Briefwechsel (Empfänger, Adressat, Ort und Datum) dieser beiden Jahrgänge bekannt gegeben. Für den Volltext kann der Leser die Druckausgabe der KGA heranziehen. Die digitale Edition der Briefwechsel ist aber in Planung, sie erfolgt aufgrund rechtlicher Bestimmungen jeweils drei Jahre nach dem Erscheinen der Druckausgabe.
Die dritte Säule der Projektwebsite bilden ausgewählte Vorlesungen, die Schleiermacher an der Berliner Universität gehalten hat. Nach der Niederlage Preußens gegen die Napoleonischen Truppen 1806 und der damit verbundenen Schließung und Umstrukturierung der Universität Halle wurde seit 1807 die Neugründung der Berliner Universität geplant. Schleiermacher wirkte an dieser Planung mit und wurde mit der Eröffnung 1810 erster Dekan der theologischen Fakultät. Er hielt vor allem theologische Vorlesungen, hatte aber aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Wissenschaften seit 1810 auch das Recht, philosophische Vorlesungen an der Universität zu halten. Aus den philosophischen Vorlesungsmanuskripten und -nachschriften wird ersichtlich, dass Schleiermacher, der bereits früh Kant und Spinoza rezipiert hatte, die Entwicklung der Klassischen Deutschen Philosophie nicht nur aus theologischem Blickwinkel beobachtete, sondern mit eigenen philosophischen Ansätzen aktiv mitgestaltete. Die Webseite bietet nähere Informationen über die derzeit im Akademievorhaben bearbeiteten historisch-kritischen Editionen der „Vorlesungen über die Ethik“, herausgegeben von Andreas Arndt und Sarah Schmidt, und der „Vorlesungen über die Praktische Theologie“, herausgegeben von Simon Gerber. Aktuell werden auch Schleiermachers „Vorlesungen über die Ästhetik“ im Rahmen eines Drittmittelprojekts (DFG) durch Holden Kelm bearbeitet, aufbauend auf umfangreichen Vorarbeiten von Wolfgang Virmond. Auch bei den Vorlesungen wird die digitale Edition der Druckausgabe der KGA nachfolgen.
Als besonderes Beispiel seiner philosophischen Aktivität wird auf der Webseite bereits jetzt eine komplette Vorlesungsnachschrift von Schleiermachers Ästhetik wiedergegeben. Es handelt sich um die lange Zeit als verschollen betrachtete Nachschrift von Alexander Schweizer, der später der Herausgeber von Schleiermachers Ethik im Rahmen der Sämmtlichen Werke (1834–1864) wurde. Die Vorlesungsnachschrift Schweizer wurde erst im Jahr 2014 identifiziert und für die Forschung zugänglich gemacht. Ihre Erstveröffentlichung auf der Projektwebseite durch Holden Kelm wurde durch ein Forschungsstipendium der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht. Die Bedeutung dieser Nachschrift liegt in der ausführlichen Dokumentation der letzten von Schleiermacher gehaltenen Ästhetik-Vorlesung im Jahr 1832/33. In der langjährigen Entwicklungslinie der Kunstphilosophie Schleiermachers, angefangen bei seinen frühen Gedanken über das Naive und das Sentimentale, die Engführung von Kunst und Religion in den früheren Ethik-Kollegs, über seine Ästhetik-Vorlesungen an der Berliner Universität, bis hin zu seinen Akademievorträgen 1831/32, bildet diese Nachschrift gewissermaßen den Schlussakkord. In ihr legt Schleiermacher die systematische Stellung der Ästhetik im Ausgang von der Ethik und die Koordination von Kunst und Natur ausführlich dar, bettet seine Konzeption in die Bestimmung der Kunst seit Platon und Aristoteles ein und strukturiert seine Grundbegriffe in Bezug auf zeitgenössische Ästhetikdiskurse, wie sie etwa im Umkreis von Kant, Schiller, Schelling oder Hegel geführt wurden. Es zeigt sich zudem deutlich der produktionsästhetische Ansatz, der seine Kraft aus der Auseinandersetzung mit dem wirkungsästhetischen Ansatz der Kantischen Ästhetik gewinnt und insbesondere auf Schleiermachers frühromantische Phase und seine Allianz mit Friedrich Schlegel verweist. Wenngleich die frühromantischen Implikationen in dieser späten Bearbeitungsstufe der Ästhetik teilweise zugunsten eher systematischer und kulturhistorischer Überlegungen zurücktreten, so bleibt ihr Status als die einzige, systematisch orientierte Ausführung einer die frühromantischen Konzeptionen berücksichtigenden Kunstphilosophie davon unberührt.
Die Webseite wurde am 7. April 2016 frei geschaltet und ist unter folgender Internetadresse verfügbar: http://schleiermacher-in-berlin.bbaw.de/index.xql