L.I.S.A.: Was verstand man in der griechischen Antike und insbesondere in der hellenistischen Epoche unter dem Begriff der Psyche? Inwiefern unterscheidet sich dabei das Verständnis der Historiker von dem der Philosophen, wie beispielsweise Pythagoras, Platon oder Aristoteles, und von dem der Mediziner, wie Hippokrates und Galenos? Und ist Seele in diesem Zusammenhang dasselbe wie Psyche? Kollidieren Religion bzw. Philosophie mit der Medizin?
PD Dr. Rohmann: Damals wie heute waren die Vorstellungen von Seele mit individuellen Weltanschauungen verbunden. Die meisten Menschen verstanden unter Psyche grob gesagt das, was den Objekten der materiellen Welt Leben einhaucht. Insofern der Kosmos als Ganzes ebenfalls der Veränderung unterliegt, waren sowohl dieser als auch die bewegten Naturphänomene der Welt, wie Flüsse oder Sterne, für sie grundsätzlich beseelt und somit das Individuum Teil seiner Umwelt und idealerweise mit dieser in Einheit. Die wichtigsten Weltanschauungen der Antike sahen zudem in den Seelen Einheiten, die unabhängig von der materiellen Welt und auch nach dem Tod des bewirtenden Körpers existierten und in neue Körper eingehen konnten. Pythagoras, Platon und Aristoteles waren sich darin einig und bauten aufeinander auf, mit Platon erreicht die idealistische Philosophie, welche die Welt aus der Ideenschau der Seele versteht, ihren Höhepunkt. Einige Philosophen des Hellenismus und ihre Anhänger, wie die Epikureer und Atomisten, hielten dagegen ein Leben nach dem Tod für unmöglich und verstanden folglich in der Psyche das Bewusstsein des Menschen.
Großen Einfluss auf die Medizingeschichte hatten seit der klassischen Zeit die Schriften des Hippokrates und seiner Schüler, welche für körperliche und seelische Leiden gleichermaßen organische Ursachen annahmen und die Medizin von dem Einfluss nichtmedizinischer Denkschulen befreien wollten. Die Überlieferungslage medizinischer Schriften bedingt es, dass sich die besonders im Hellenismus ausgeprägte Vielfalt der einzelnen medizinischen Schulen außerhalb der hippokratischen kaum noch nachvollziehen lässt. Auf längere Sicht hat sich aber spätestens mit der hohen Kaiserzeit und den Schriften Galens die Richtung durchgesetzt, welche in Fragen der menschlichen Psyche einen Ausgleich zwischen medizinischem und philosophischem Wissen anstrebte. Ähnlich wie die erhaltenen Historiker des Hellenismus und der auf sie folgenden römischen Kaiserzeit stand Galen der hellenistischen Philosophenschule der Stoa nahe, welche eine Mittlerposition zwischen der idealistischen Seelentheorie eines Platon und dem rein auf materialistischer Physik aufbauenden Weltverständnis der Epikureer einnahm.