Der Begriff "Otto Normalverbraucher" beschreibt einen Menschen in durch und durch durchschnittlichen Lebensverhältnissen, den deutschen Durchschnittsbürger eben. Aus den Debatten rund um Inflation, Steuerpolitik und Zinsen ist der Otto Normalverbraucher als rhetorische Figur nicht wegzudenken. Doch woher kommt der Begriff eigentlich? Das erklärt der Linguist Dr. Mark Dang-Anh im Interview.
"Der für die NS-Zeit typische Exklusionscharakter des Sprachgebrauchs"
L.I.S.A.: Bis heute greifen wir auf zahlreiche Sprichwörter und Redensarten historischen Ursprungs zurück – so zum Beispiel die Rede vom „Otto Normalverbraucher“. Wann und wie ist die Redewendung entstanden?
Dr. Dang-Anh: Der Ausdruck „Normalverbraucher“ stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der die Verteilung von Lebensmitteln rationiert wurde. Dabei wurden als „Normalverbraucher“ diejenigen realen oder fiktiven Personen und Gruppen bezeichnet, denen durchschnittliche Lebensmittelrationen zugeteilt wurden. Das Wort „Normalverbraucher“ diente dabei als eine distinktive Sozialkategorie neben anderen wie „Kinder und Jugendliche“ oder „Langarbeiter“ und „Nachtarbeiter“, die zum Beispiel in der Rüstungsindustrie beschäftigt waren. Anhand dieser Kategorisierungen wurde entschieden, wer wie viel bekommt. Hieran zeigt sich die Notwendigkeit zur Verknappung von Gütern in Kriegszeiten mittels der Priorisierung kriegsrelevanter Arbeitskraft. Diese sozialen Kategorien, die wir z.B. sehr häufig in Berichten des NS-Apparats ab Kriegsbeginn 1939 finden, dienten also als handfeste Unterscheidungskriterien für unterschiedlichen Rationierungen in der Kriegswirtschaft. Es wird aber auch der für die Zeit des Nationalsozialismus typische Exklusionscharakter des Sprachgebrauchs deutlich, wenn etwa „nicht-deutsche Normalverbraucher“ weniger Lebensmittel empfangen.
In der Nachkriegszeit erlangte dann der idiomatische Ausdruck „Otto Normalverbraucher“ durch einen Film eine gewisse Popularität. Im Film „Berliner Ballade“ von Robert A. Stemmle aus dem Jahr 1948 hieß die Hauptfigur nämlich „Otto Normalverbraucher“, gespielt von Gerd Fröbe. Fröbe verkörpert darin einen typischen Durchschnittsbürger seiner Zeit. Hier wurde also vor allem der Aspekt des Durchschnittlichen durch das Phrasem „Otto Normalverbraucher“ aufgenommen. Das kann man übrigens sehr schön im Portal „Wortgeschichte digital“ nachlesen.[1]
Diskurshistorisch betrachtet, entsteht durch die Verbindung des seinerzeit geläufigen Vornamens „Otto“ und einer zeitgenössischen gesellschaftlichen Begebenheit, nämlich der Rationalisierung von Lebensmitteln im Zweiten Weltkrieg, die das Ausdruckselement „Normalverbraucher“ anspricht, mit „Otto Normalverbraucher“ eine sprachliche Einheit mit einer eigenständigen Bedeutung, ein idiomatisches Phrasem. Hinzu kommt die kulturelle Prägung durch einen populären Film, in dem die Hauptfigur mitsamt ihres symbolischen Namens semantisch kontextualisiert wird. Ein bekannter Film, der den Zeitgeist der Nachkriegszeit satirisch adressiert, gab also durch seinen Plot explizite Hinweise darauf, wie der Ausdruck „Otto Normalverbraucher“ zu verstehen sei. Ich denke, all diese Aspekte verliehen dem Ausdruck eine gewisse semantische und pragmatische Griffigkeit – etwas, das bekannterweise für etwas steht und in den zeitgenössischen Diskurs passte, dort Verwendung fand.