Die Diagnose des Kulturwissenschaftlers und Psychotherapeuten Dr. Christian Kohlross lautet kurz und knapp: Die westlichen Gesellschaften sind therapiebedürftig. Symptome der diagnostizierten kollektiven Neurose seien vor allem Hysterie, Depression und Narzissmus. Zuletzt haben wir in einem Interview mit dem Psychiater und Psychoanalytiker Dr. Hans-Jürgen Maaz über ganz ähnliche Phänomene gesprochen, der die Ursachen für das Führen eines falschen Lebens in Überanpassung und Überkonformität ausmachte. Christian Kohlross setzt einen anderen Akzent zur Erklärung von der von ihm festgestellten kollektiven Neurose, in der Affektisolierung, Externalisierung und kognitive Dissonanz eine entscheidende Rolle spielen. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Ängstigende, für unaushaltbar gehaltene Gefühle, werden verdrängt"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kohlross, Sie haben aus psychologischer Perspektive ein Buch über den gegenwärtigen Zustand westlichen Gesellschaften geschrieben, den Sie als „kollektiv neurotisch“ bezeichnen und für therapiebedürftig erachten. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Welche Beobachtungen und Gedanken gingen Ihrer Arbeit voraus?
Dr. Kohlross: Da ich nicht nur kulturwissenschaftlich, sondern auch psychotherapeutisch in eigener Praxis tätig bin, sehe ich täglich Menschen, für die das Problem, bei dem sie Hilfe suchen, in der Regel nicht dasjenige ist, das sie für ihr Problem halten. Das heißt, sie leiden unter Symptomen, aber der Zugang zu den diese Symptome verursachenden Gefühlen ist ihnen in der Regel versperrt. Sie, diese ängstigenden, für unaushaltbar gehaltenen Gefühle, werden verdrängt.
Irgendwann wurde mir beim Verlassen meiner Praxis bewusst, wie sehr ich selbst verdränge – den Umstand nämlich, dass sich im politischen Tagesgeschehen etwas sehr Ähnliches ereignet wie im Leben von Menschen, die psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Menschen fürchten sich vor Zuwanderern, verharren etwa gegenüber der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen im Zustand depressiver Hilflosigkeit oder machen angesichts eines immer alltäglicher werdenden Weltterrorismus die Erfahrungen von Kontrollverlust, aber zu den darunter liegenden Gefühlslagen, will sagen, zu den emotionalen Gründen dieser Symptome haben sie keinen Zugang. Sie werden verdrängt und bestimmen eben deshalb das Handeln.