Villa Braslavsky: Wie ich gestern schon sagte: Das ist auch ein Aspekt von liberalisierenden sozialen Bewegungen, nämlich das Wissen darum, dass die Lebensführung politisch ist, ob wir es wollen oder nicht. Das zeigte sich auch schon an Ökologiebewegungen, an Vegan- und anderen Ernährungsbewegungen, die teilweise zu Recht, aber teilweise auch zu Unrecht als reiner Lebensstil abgetan werden.
Chatzoudis: Die Krise zeigt doch gerade, dass die Fragmentierung von allen Lebensbereichen in Partikularinteressen an Grenzen stößt. Das könnte auch heilsam sein.
Villa Braslavsky: "Fragmentierung"? Stimme mit der Diagnose nicht überein, das müssten wir diskutieren.
Chatzoudis: Gerne, aber vielleicht dann in einer neuen Sitzung.
Poutrus: Die Diskussion darüber wird meines Erachtens aber dadurch erschwert, dass diese Punkte einander nicht vollkommen ausschließen und dass auch das Ziel selbst - Reduzierung der Ansteckungsmöglichkeiten - in Zweifel gezogen wird.
Zimmerer: Wie sollen wir denn bestimmen, was das Wohl der Gemeinschaft oder der Gesellschaft ist, wenn wir in dessen Artikulation eingeschränkt sind?
Poutrus: Ist die Artikulation eingeschränkt? Das kann ich hierzulande nicht erkennen.
Zimmerer: Nun, eine Beschränkung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist eine Einschränkung, unbeschadet der Frage, ob man sie für gerechtfertigt hält oder nicht.
Poutrus: Das ist richtig, aber keineswegs die einzige Artikulationsmöglichkeit.
Zimmerer: Nein, aber wie Sie bei ihren Forschungen darauf hinwiesen, dass Nähe notwendig ist zur Erinnerung, so gilt das auch für die Organisation von politischem Willen.
Chatzoudis: Was ist denn mit der Vernunft, Herr Zimmerer?
Zimmerer: Das Problem ist eher, dass bestimmte Interessen verallgemeinert und manche Bedürfnisse vergessen wurden. Nicht aus bösem Willen, sondern weil die politische Klasse halt bei den Maßnahmen an Menschen wie sie selbst dachte, und an andere, mit anderen Bedürfnissen eben weniger. Das ist eben auch ein Problem, welche Gruppen wie repräsentiert sind, oder auch nicht.
Villa Braslavsky: Mir gehen hier zu viele Großbegriffe zu schnell und munter durcheinander.
Chatzoudis: Ich finde Zahlen können auch hier hilfreich sein bzw. Orientierung bieten. Ab wann ist man denn eine Gruppe, die zu einer Stimme und zur Berücksichtigung von Interessen berechtigt?
Zimmerer: Jeder und jede ist zu einer Stimme berechtigt.
Chatzoudis: Ja, dann organisieren Sie das mal politisch....
Villa Braslavsky: Ich muss fragen: Wovon sprechen wir hier gerade? :)
Zimmerer: Davon, dass auch die Einschränkung von Rechten und Grundrechten zum Zwecke der Pandemiebekämpfung hinterfragt werden darf, ja muss.
Villa Braslavsky: D'accord. Weiß nur nicht, was das mit Gruppen, Fragmentierungsdiagnosen und Gemeinschafts-Größe zu tun hat.
Poutrus: Ich denke bei alldem, dass selbst bei nachgewiesener Zweckdienlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowie auch ohne Machtmissbrauch die Sorge besteht, dass die politische bzw. demokratische Kultur des Landes Schaden nimmt.
Zimmerer: Stimme zu.
Villa Braslavsky: Ja, stimme auch zu. Zugleich sehen wir doch, wie munter genau diese Fragen - auch kontrovers - diskutiert werden. Wir sehen aber auch, wie die Debatte bisweilen übermoralisiert bzw. fundamentalisiert wird, zum Beispiel wenn Parkbank-Lesende als potentielle Massenkiller dramatisiert werden. Mir machen zudem Einzelberichte über Denunziant_innen große Sorgen. Ich erlebe das gerade auch bei einigen mir insgesamt sehr nahen bzw. mir sympathischen Menschen, auch Kolleginnen. Die tatsächlich die Polizei rufen würden, wenn sie den Verdacht hätte, über ihnen sei jemand "Fremdes" zu Besuch.
Poutrus: Mir auch und da habe ich die Befürchtung, dass die der Exekutive übertragenen Sondervollmachten für andere Zwecke missbraucht werden könnten, als den der Pandemie-Bekämpfung.
Chatzoudis: Gut, dann brechen wir ab. Vielen Dank für die muntere und schön kontroverse Debatte!