Chatzoudis: Können wir denn davon ausgehen, dass "Durchregieren" eine neue Akzeptanz finden wird?
Zimmerer: Hoffentlich nicht!
Villa Braslavsky: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Es gibt ja auch eine Menge kritischer Begleitung und Kommentare in den Medien.
Poutrus: Die Debatte läuft doch anders, Herr Chatzoudis.
Zimmerer: Wie denn?
Poutrus: Die Befürchtungen, dass es eine Wende ins Autoritäre geben könnte, sind schon erheblich. Ich teile dabei nicht jeden Einwand, aber die Potentiale sehe ich auch.
Villa Braslavsky: Ja, ich auch. Aber ich sehe auch, wie die (deutsche) Öffentlichkeit sich kritisch damit befasst.
Chatzoudis: Aber wenn die Gefahr für die Macht nicht mehr von renitenten Bürgerinnen und Bürgern ausgeht, sondern von unpersönlichen Bedrohungen wie Klimawandel oder Killerviren, wird dann "Durchregieren" nicht einfach als Gebot der Stunde betrachtet, auch, weil wir ja dann angesichts der Bedrohung angeblich alle gleich sind?
Zimmerer: Hat beim Klimawandel bisher ja nicht so geklappt.
Chatzoudis: Dann ist Corona die neue Blaupause?
Villa Braslavsky: Lässt sich jetzt nicht sagen - ist viel zu früh, viel zu mittendrin, viel zu ad hoc.
Chatzoudis: Wir denken ja auch nur laut...
Villa Braslavsky: Es gibt aber auch viele gedruckte und wahrgenommene Analysen dazu, wie UNGLEICH die Effekte und die Maßnahmen faktisch sind.
Chatzoudis: Bin ich von überzeugt.
Villa Braslavsky: Ich glaube, dass im Moment in Bezug auf "Durchregieren" vieles geht, weil sich alle im Glauben wiegen, es ist eh bald vorbei. Wie ein schlimmer Albtraum...
Zimmerer: Es wird aber nicht bald vorbei sein.
Poutrus: Für mich ist an den Debatten, zuvor wie jetzt, die vorgetragene Sicherheit irritierend. So, als ob es einen klaren Königsweg in dieser Situation gäbe. Der Ruf nach "Durchregieren" wie der "Diktatur-Vorwurf" scheinen mir angesichts der fortbestehenden Unsicherheiten überzogen.
Chatzoudis: Letzte Frage: Sind Sie froh, dass Sie gerade jetzt in Deutschland leben?
Villa Braslavsky: Angesichts der Refugee Camps bin ich so was von, als Deutsche nämlich.
Poutrus: Bin ich nicht. Ich bin froh in der Nähe meiner Familie zu sein.
Chatzoudis: Nur Familie? Oder schwebt über allem das Gefühl, gerade gut durch die Krise geführt zu werden?
Zimmerer: Ich wiederhole es, weil es auch hier passt: Als Historiker würde ich sagen, in den letzten vier Wochen lief das gut, wenn man die Zeit vorher miteinbezieht, wo die Gefahr teilweise sträflich vernachlässigt wurde, ergibt sich ein differenzierteres Bild, und was die Zukunft bringt, müssen wir abwarten.
Villa Braslavsky: Ich bin froh, nicht in einem Land zu leben wie beispielsweis in Lateinamerika, den USA, Griechenland oder Großbritannien, deren Gesundheitssysteme durch (neoliberale) Austeritätspolitiken systematisch zerstört wurden.
Chatzoudis: Hätten Sie denn woanders (mehr) Angst?
Villa Braslavsky: Ja, ich hätte woanders wohl auch mehr Angst.
Poutrus: Das allerdings.
Chatzoudis: Ok, ich sehe gerade, die Zeit ist rum! Vielen Dank für die engagierte Debatte!
Villa Braslavsky: Ich danke auch!
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vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich an Frau Villa Braslavsky und die Runde insgesamt weitergeleitet habe.
Mit freundlichen Grüßen
Georgios Chatzoudis
Kommentar
vielen Dank für die sehr treffende Aussage, bezogen auf die 68'er:
"Nein, im Gegenteil, nicht gescheitert, sondern vielmehr verstanden als Wissen um die politische Dimension und Relevanz der eigenen Lebensführung und mit der Kehrseite einer (bisweilen denunziatorischen, fundamentalistischen) Moralisierung der Alltagspraxis."
Fragen:
Ließe sich diese Ambivalenz nicht auch ohne 68'er erklären als ganz normale zur Verfügung stehende Verhaltensweisen in einer Gesellschaft - Zustimmung durch Befolgen und Befeuerung durch Denzunziation?
Die dritte mögliche Verhaltensweise, nämlich die Ablehnung gegenüber den staatlichen Maßnahmen, des "patriarchalischen" Tones der Politik (Die Bürger verhalten sich größtenteils brav) oder der vorgelegten Zahlen und Schlussfolgerungen, kommt in dieser Diskussion leider zu kurz und wäre sicher einer eigenen Betrachtung wert. Ist das nicht ein notwendiges Korrektiv gegen allzuviel 'Durchgreifträume' der Politik, die unter der Coronaebene etliche Dinge wie Waffenexporte, Defender 2020 etc. durchwinken kann?
Ich danke für den ausgewogenen, differenzierten Stil von Ihrer Seite und von Seite der anderen Diskutanten - das findet sich leider sehr selten in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion.
Mit freundlichen Grüßen