Chatzoudis: Ja, bitte. Wird durch die Praxis des Anzeigens und Meldens ein Verhalten neu eingeübt oder eher etwas Verschüttetes neu hervorgeholt? Mit welchen Konsequenzen?
Zimmerer: Der polemisch eingeführte Begriff des "Blockwarts" zu Beginn zeigt ja schon, dass das Geschichte und Tradition hat.
Chatzoudis: "Blockwart" klingt so deutsch.
Guérot: Das ist für mich klar - ich bin persönlich tatsächlich der Meinung, dass hier eine "Saubermann"-Mentalität gefördert wird, mit fraglichen sozialen und ethischen Konsequenzen. Es ist ein neues "Biedermeier", inklusive der Verbrämung der Rechtlosigkeit. Man darf zum Beispiel nicht alleine auf einer Bank sitzen, obgleich man niemanden gefährdet. "Don't argue" ist immer das Ende von Verhältnismäßigkeit!
Chatzoudis: Ich denke, es gibt eine charakterliche Disposition, wie man mit Verstößen anderer umgeht. Adorno hätte hier vielleicht vom autoritären Charakter gesprochen.
Guérot: Aber die autoritäre Versuchung, in der wir gerade sind, wird doch allenthalben diskutiert: Agamben, Markus Geiler, überall...
Zimmerer: Auch im CoronaLogbuch! :) Und das passt zum Begriff des Untertanengeistes, den wir hier ja auch schon angesprochen haben. Aber konkret: Gibt es in der Überwachung der Regeln regionale und nationale Unterschiede?
Chatzoudis: Ja, und um daran anzuschließen: Welche Rolle spielt die Politik, wenn es um das Anzeigen von Verstößen geht? In Baden-Württemberg zum Beispiel haben Ministerpräsident und Innenminister zum Anzeigen aufgerufen. Mehr als 3.000 Anzeigen sollen seitdem bei der Polizei eingegangen sein.
Guérot: Regionale Unterschiede? Ich habe es in Wien und in Österreich als schlimmer empfunden als hier. Die Menschen waren geradezu verschreckt. Sogar auf Spaziergängen im Wald haben Menschen einander beäugt.
Zimmerer: "Verschreckt" ist ein gutes Stichwort: Inwieweit hat das Framing der Krise damit zu tun?
Guérot: Stichwort "verschreckt". Die Leute reagieren fast panisch, wenn man sie nur grüßt. Ich habe das bei Spaziergängen getan, und dazu gesagt: Lächeln und Grüßen sind nicht ansteckend: Die Reaktionen waren fast ängstlich!
Krämer: Ich lebe in Bremen, in einer liberalen Stadt, da mache ich mir wenig Sorgen um die Nachbarn. Neulich gab es einen größeren Polizeieinsatz in der Nachbarschaft, mit Hunden, schussicheren Westen, Rammbock – und in Pandemie-Zeiten auch mit Atemschutzmasken. Ich habe zugeschaut und mich dabei beobachtet, wie ich mich mehr gesorgt habe, ob die Polizei fair vorgeht, als über die vermeintlichen Verbrecher. Wovon wir uns bedroht fühlen, kann doch sehr unterschiedlich sein.
Zimmerer: Wollen die Leute Sicherheit statt Freiheit?
Guérot: Die meisten "Leute" wollen nie Freiheit statt Sicherheit, die Mehrheit will immer Sicherheit. Darum ist nach Hannah Arendt der Sinn der Politik ja gerade die Freiheit. :)
Chatzoudis: Eine wichtige Frage bitte noch: Was ist mit den Menschen, die heute unter der Kontaktsperre leiden? Soll man die Tochter aus Bremen anzeigen, wenn sie den vereinsamten Vater in Oldenburg besucht?
Guérot: Nein, natürlich nicht anzeigen! Das sind doch persönliche Rechte!
Chatzoudis: Die Kontaktsperre schützt vielleicht viele, aber sie überlässt Menschen, die auf Kontakte angewiesen sind, der Einsamkeit. Mit fatalen Folgen, wie man lesen kann.
Guérot: Ja, und die "Memories", die wir schaffen, sind problematisch. Wenn jetzt ein Enkel seinen Großvater besucht und der dann möglicherweise (aus ganz anderen Gründen) zeitnah stirbt, macht sich der Enkel möglicherweise lebenslang Vorwürfe. Wir "züchten" eine Denke, die problematisch ist.
Krämer: Die rechtlichen Bedingungen hier sind aber bei alldem sehr klar: Ein persönlicher Besuch ist nicht verboten. Außer in Einrichtungen wie Pflegeheimen.
Chatzoudis: Wie weit reicht persönlich, Herr Krämer?
Krämer: Rechtlich? In Bremen sehr weit. Alle spontanen Versammlungen nach Artikel 8 des Grundgesetzes sind zulässig (laut § 6 Abs. 2, Satz 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 3. April 2020, Brem.GBl. 2020, 171).
Guérot: In Berlin wurde am Wochenende eine Demonstration unterbunden. Dabei waren alle auf zwei Meter Abstand und trugen Masken.
Krämer: In Bremen wäre das vermutlich nicht so gekommen.
Zimmerer: Masken? Vermummungsverbot?
Guérot: Jetzt wird es interessant. Wir haben ewig über Burka diskutiert, und darüber, dass man in Deutschland im öffentlichen Raum "Gesicht" zeigen muss - und jetzt kommt Maskenpflicht!
Zimmerer: Genau, die Willkürlichkeit kultureller Normen, die nationalistisch aufgeladen wurden.
Guérot: Vor allem aber werden neue Normen - Petzen, Mundschutz, Distanz - gesellschaftlich etabliert!
Zimmerer: Das Händeschütteln als Leitkultur?
Chatzoudis: Das wird verschwinden, könnte ich mir vorstellen.
Guérot: Absolut!
Krämer: Die Gedächtnisfrage finde ich übrigens auch wichtig. Wie erinnern wir uns an die Krise? Bleiben Verbote eines Obrigkeitsstaates - oder sinnvolle Verhaltensregeln, die rechtlich gefasst, aber letztlich für alle zustimmungsfähig sind?
Chatzoudis: Ok. Die Zeit ist rum. Mit Fragen kann man eine Diskussion auch gut beenden. Ich danke sehr für die lebhafte Debatte! Vielen Dank!
Zimmerer: Danke auch!
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"Je höher die Gefahrenwahrnehmung sowie das Gemeinschaftsgefühl, desto größer ist auch die Bereitschaft, andere Menschen im Falle der Nichteinhaltung der Corona-Maßnahmen bei den Behörden zu melden."
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