Nachdem es beim vergangenen 35. Kunsthistorikertag 2019 in Göttingen um Fragen rund um das „Ding“ ging, widmete sich der aufgrund der Pandemie mit einem Jahr Verspätung in Stuttgart in Präsenz ausgetragene 36. Kunsthistorikertag dem Thema „Form Fragen“. Damit knüpfte der Kongress nicht nur konzeptionell und inhaltlich an seine unmittelbare Vorgängerveranstaltung an, sondern auch an aktuelle Forschungsfragen des Faches.
Von Ding- zu Formfragen oder: über die gute und die schlechte Form der Kunstgeschichte.
Madeline Delbé | Bericht vom XXXVI. Deutschen Kunsthistorikertag in Stuttgart
Inwiefern hat die unter anderem an der Stuttgarter Weißenhofsiedlung umgesetzte Devise „form follows function“ noch immer Gültigkeit? Und ist es nicht ohnehin die Form, die das Objekt, das „Ding“ an sich, und dessen Inhalt, also das Innere und Äußere, miteinander verbinden oder verblenden lässt? Durch neue Fragestellungen und Herangehensweisen scheint sich die Kunstgeschichte in den vergangenen Jahren vielfach und immer stärker von dem eigentlichen Objekt entfernt zu haben. Umso wichtiger ist es, der „Form“ neue Beachtung zu schenken, da sie das Potential birgt, unterschiedliche Ebenen eines Werkes miteinander zu verbinden und sichtbar zu machen. In zahlreichen Foren stets wiederkehrende Begriffe und Konzepte waren schließlich neben der Form der eng mit letzterer verbundene Stil sowie das Material. Ebenso häufig damit in Zusammenhang gesetzt wurde der Begriff der Kennerschaft, welche diesen sich gegenseitig bedingenden Konzepten als vermittelndes Glied übersteht. Dies wurde unter anderem in dem Vortrag von Dr. Thomas Ketelsen zur Zu- und Abschreibungsgeschichte von Rembrandt-Zeichnungen im Zuge des sich entwickelnden kennerschaftlichen Diskurses deutlich.
In der Kunst und damit auch in der Kunstgeschichte besteht seit jeher die gute bzw. schöne und die schlechte bzw. unschöne oder gar hässliche Form. Wie sich ein Objekt oder eine Form kategorisieren lässt, bestimmt dabei meist der im Sinne des kunsthistorischen Vokabulars ebenso wie die Bezeichnung des „Schönen“ kritisch zu verwendende Begriff des „Geschmacks“, der Geist der Zeit: Während die Werke Raphaels seit ihrer Entstehung verehrt wurden, mussten beispielsweise die Werke Caravaggios erst aus den Depots der Uffizien und denen anderer Museen aus dem Schneewittchenschlaf erweckt werden. Eine bemerkenswerte und positive Entwicklung in der Beschäftigung mit Kunst ist, dass diese immer unabhängiger von ihrem “Schönheitsstatus“ geschieht: Wie Christopher Wood in seinem Impulsvortrag „Im Reich des Chaos“ feststellte, ist es in der zeitgenössischen Kunst gar nicht mehr erstrebenswert, einem Kunstwerk den Stempel „schön“ aufzudrücken; dennoch beschäftigt sich die Kunstgeschichte mit solchen sowie mit in ihrem künstlerischen Wert vermeintlich niedriger einzuordnenden Objekten, da sich ihre Aussage eben nicht in ihrer eigentlichen äußeren Form manifestiert, sondern da sie vielmehr als Referenzstücke fungieren können, die andere Werke oder Phänomene einordnungs- oder interpretierfähig werden lassen. Wie umstritten es sein kann, wenn alte Formen neuen, scheinbar funktionaleren und dem Zeitgeist stärker entsprechenden Formen weichen müssen, zeigt wohl kaum ein Beispiel deutlicher als der Neubau des Stuttgarter Bahnhofs, den es im Rahmen einer der zahlreichen angebotenen Exkursionen zu besichtigen gab.
Der 36. Kunsthistorikertag hat auch gezeigt, dass sich die Kunstgeschichte auf vielfältige Weise nicht nur mit Objekten, Formen, Phänomenen und unterschiedlichen Herangehensweisen an diese auseinandersetzt, sondern darüber hinaus auch angemessen und schnell auf aktuelle Geschehnisse reagieren kann. So gelang Prof. Magdalena Bushart und Dr. Henrike Haug in der von ihnen geleiteten Sektion „Geste, Spur und Linie. Zur Relation von Form und Technik in den druckgrafischen Verfahren der Frühen Neuzeit“ mit dem Vortragen der Forschung der plötzlich und unerwartet verstorbenen Kollegin Dr. Jeannet Hommers eine angemessene und pietätvolle Form, der Person Hommers und ihrer Forschung den Raum zu bieten, der ihr gebührt. Mit der kurzfristigen Einrichtung des täglich stattfinden Ukraine-Forums wurde zudem auf die aktuellen Kriegsgeschehnisse reagiert und eine Diskussions- und Denkplattform eröffnet, wie sich Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker mit Blick auf die Auswirkungen von Krieg und der damit einhergehenden Zerstörungswelle von Menschenleben und Kulturgut einbringen können. Treffender als in dem Plädoyer seines Festvortrages zur Eröffnung des Kunsthistorikertages hätte es Prof. Ulrich Raulff wohl kaum sagen können: „Sie als KunsthistorikerInnen halten den Schlüssel für das Gedächtnis des kulturellen Erbes in der Hand. Nutzen Sie ihn, um die zerbrochene Form wiederherzustellen.“
Ein wichtiges Ergebnis des diesjährigen Kunsthistorikertages ist auch, dass dieser in Zukunft nicht mehr unter diesem, sondern unter dem Titel „Deutscher Kongress für Kunstgeschichte“ tagen und der Verein in den „Deutschen Verband für Kunstgeschichte“ umbenannt wird. Dadurch werden die Mitglieder des Vereins, die Akteurinnen und Akteure des Faches sowie der Gesellschaft allgemein repräsentiert. Anknüpfend an diese Tendenz der Repräsentation aller Mitglieder der Gesellschaft sei auch erwähnt, dass der Initiative „Kunstgeschichte Inklusiv“, die eben dieses Interesse vertritt, ein eigenes Forum zugedacht wurde. Ebenso lobenswert war, dass mit gleich zwei Foren dem wissenschaftlichen Nachwuchs auf diesem Kunsthistorikertag besonders viel Raum zur Sichtbarmachung und Diskussion eingeräumt wurde. Daraus hervorgegangen ist ein Verteiler zur Nachwuchsvernetzung, der die Diskussion rund um die Repräsentation des wissenschaftlichen Nachwuchses weiter voranbringen zu gedenkt. Der neugewählte Vorstand des Vereins stellte zudem in Aussicht, dass die Kommunikation und damit das Gehörtwerden des allein durch die Bezeichnung “Nachwuchs“ noch immer scheinbar bewusst kleingehaltenen Kreises angehender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zukünftig verbessert werde. Erstrebenswert für nachfolgende Kongresse wäre also, im Sinne eines Berufsverbandes eine größere Bandbreite an unterschiedlichen Karrierestufen und Berufsgruppen, die aus dem Studium der Kunstgeschichte hervorgehen, mit und auf dem Kongress zu repräsentieren und in einen Dialog miteinander treten zu lassen; dafür sowie für eine sich weiterentwickelnde, vielfältige und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Kunst hat der diesjährige Kunsthistorikertag in Stuttgart einige Weichen gestellt.