L.I.S.A.: Auf welches Quellenmaterial stützen Sie die Untersuchungen? Konkret gefragt: Gibt es Aufzeichnungen der Radioprogramme oder sind allein die Manuskripte der Sendungen überliefert? Inwiefern lässt sich schriftliches Quellenmaterial überhaupt für eine Studie der Hörfunkprogramme heranziehen?
Dr. Fritscher-Fehr: Im Mittelpunkt meiner Arbeit standen die Quellen eines ganz bestimmten Hörfunkformats; nämlich die des Schulfunks. Ausgehend von meinem Erkenntnisinteresse und meiner Fragestellung war es wichtig, ein Hörfunkformat zu finden, das sich explizit und über den gesamten, von mir fokussierten Zeitabschnitt permanent mit Geschichte auseinandergesetzt hatte. Das war im Programmangebot des Schulfunks der Fall und mit seinen Sendungen lag zudem ein Quellenkorpus vor, der es zuließ, ganz explizit nach geschichtstheoretischen Grundlagen, nach rezipierten Quelleneditionen und Sekundärtexten zu fragen.
Darüber hinaus stellte der Schulfunk eine Verbindung zu bildungspolitischen Akteuren her, die auf diese Weise Einfluss auf das wichtigste Massenmedium der damaligen Zeit und auf die in ihm verhandelten Geschichtskonzeptionen ausüben konnten. Alle westdeutschen Sendeanstalten strahlten ab den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren solche Schulfunksendungen aus, um den Schulen Lehrinhalte anzubieten, die vermeintlich nicht ideologisch beeinflusst waren; die also nicht aus der Zeit des Nationalsozialismus stammten. Damit kam dem Schulfunk im Hörfunk der Nachkriegszeit eine Sonderstellung zu. Das Programm richtete sich zunächst ausschließlich an Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler und sollte mittels spezieller Rundfunkapparate ganze Unterrichtseinheiten in den westdeutschen Schulen ersetzen.
Diese Ausrichtung an der Schule führte dazu, dass komplexe Inhalte, in diesem Fall historisch orientierte Sendungen, sehr allgemeinverständlich übersetzt wurden und auf diesem Weg ganz andere Adressatenkreise erreichten als von den Rundfunkverantwortlichen vorgesehen. Der Schulfunk wurde im Verlauf seiner Entwicklung weniger von Schülerinnen und Schülern und stärker von einem sehr gemischten Publikum gehört, das dem Schulalter längst entwachsen war – Hausfrauen, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose. Menschen, die zu den Ausstrahlungszeiten eben Radio hörten und sich über den Schulfunk „nachbildeten“. Daher kann auch von einer gewissen Breitenwirkung des Programms ausgegangen werden, auch wenn der Titel des Programms das nicht so ohne weiteres vermuten lässt.
Selbstverständlich gab es auch andere Radioformate, in denen geschichtliche Themen verhandelt worden sind und die im Verbund mit den Sendungen des Schulfunks einen erzieherischen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks umrissen. So beispielsweise der Jugendfunk, literarische Hörspiele oder die Abend- und Nachtprogramme, zu denen bereits Forschungsergebnisse vorliegen. Das Radio war ganz eindeutig ein Re-Education-Instrument und damit ein Erziehungsmittel, das somit keineswegs eine ideologiefreie Wertevermittlung übernahm.
Um den zweiten Teil Ihrer Frage zum Quellenmaterial zu beantworten: Wie in der Frage zuvor bereits ausgeführt, existierten leider nur in Ausnahmefällen die Aufzeichnungen der Sendungen, da in den späten 1940er- und noch den gesamten 1950er-Jahren Tonbänder rar waren und viele Sendungen überspielt werden mussten. Die von mir auf einer quantitativen Auswertung basierende Auswahl an qualitativ zu untersuchenden Sendungen stand mir als Tondokumente für eine quellenkritische Analyse nicht zur Verfügung. Ich konzentrierte mich daher auf die Radiomanuskripte. Sicher lässt sich darüber diskutieren, ob dieses Vorgehen methodologisch tragfähig ist. Aber da mein Erkenntnisinteresse stärker auf die Frage nach den politischen, sozialen, kulturellen sowie räumlichen Ordnungsvorstellungen zielte, die den Sendungen inhärent waren, und weniger auf die radioästhetische Ausgestaltung und Aneignung des historischen Themas abhob, war die Arbeit mit dem schriftlich überlieferten Quellenmaterial sehr gewinnbringend.
Selbstverständlich habe auch ich den spezifischen Charakter der Quellen berücksichtigt und mich an einer Quellenkritik orientiert, in der das Auditive immer einbezogen war. Aber letztlich stand die geschichtskulturelle oder auch geschichtspolitische Dimension der Sendungen im Fokus und diese musste durch ergänzende Quellen wie Begleittexte, Protokolle verschiedener Ausschusssitzungen, Bibliothekslisten, denen die rezipierte Literatur entnommen werden konnte, Autorenkorrespondenzen und viele weitere Quellen erschlossen werden.
Insgesamt habe ich 1.279 Radiosendungen und die erwähnten weiteren Quellenerzeugnisse ausgewertet, da mir ein diachroner Zuschnitt für die Untersuchung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sehr wichtig war. Das erklärt den mikrohistorischen Zuschnitt, sprich die Konzentration auf zwei Sendeanstalten, um tiefergehend und hierbei exemplarisch den sich wandelnden Ordnungsvorstellungen und dem Einfluss des Hörfunks auf die ideengeschichtliche Entwicklung der Bundesrepublik nachzuspüren. Der Schulfunk war für mich somit eine Art „Sonde“, mit deren Hilfe ich zeigen konnte, dass im Radio ein demokratisches gesellschaftliches Bewusstsein und ein bundesrepublikanischer Werte-horizont mit ausgehandelt und in ersten Ansätzen verankert wurde.