Faruks Mutter Temima, die aber alle im Städtchen als Beba kennen, musste zwei Kinder großziehen, mit Arbeit auf dem Feld und im Büro. Das Grundstück pflegt sie nur mit Hilfe ihrer Mutter Latifa, dem ältesten Familienmitglied, die sich bereits ein Leben lang mit Haushalt und Landwirtschaft beschäftigt. Als diesen Frühling die Unruhen von den Kundgebungen gegen die Zentralregierung Bosniens und Herzegowinas ausbrachen, empfahl man ihr, den Fernseher anzuschalten. Das gehe sie nichts an, sagte sie dazu, sie müsse sich um ihre Hühner kümmern. Für mich ein Beispiel dafür, dass sich die einfachen Leute hier lieber die Hände mit Mist beschmutzen, als mit Politik, denn sie wissen aus Erfahrung, dass Politik zu blutigen Auseinandersetzungen führen kann.
Landwirtschaft ist aber nur die eine Seite Bosniens, nur eine Seite Goraždes und nur eine Seite der Menschen, die sie betreiben. So arbeitet zum Beispiel Beba im Verwaltungswesen der Stadtgemeinde - die Landwirtschaft bringt einfach nicht genug Ertrag ein, da die steilen Abhänge der Hügel vom Drinathal keinen intensiven Anbau erlauben, sondern nur einen einfachen, aber dafür immerhin nachhaltigen.
Zusätzlich zu ihren Berufen im lokalen Gewerbe fischen die Männer in der Drina, jagen in den Wäldern Wild, Hasen und Hirsche. Wildschweine werden hier geschlachtet, aber nicht verzehrt - das würde gegen die Halal-Vorschriften verstoßen - sondern an Serben gut verkauft. Berufliche und wirtschaftliche Beziehungen mit Andersgläubigen sind heute wieder an der Tagesordnung, denn niemand lehnt hier gute Geschäfte ab.
Im Sommer fährt hier - wie man landläufig sagt - fast halb Serbien auf der kurvigen Bundesstraße durch das Drinatal durch, um zur kroatischen Küste um die Ferienortschaft Dubrovnik zu gelangen. Dei Strecke war schon immer eine wichtige Handels- und Verkehrsader zwischen Serbien, Bosnien und Kroatien, bereits seit dem Altertum, und der letzte Krieg konnte die Verbindung auch nicht unterbrechen. Man vertrage hier viel einfacher die Serben aus Belgrad als die unmittelbaren Nachbarn aus der Republika Srpska, vertraut mir Safet an. Man kann sich schon gut leiden, doch man kann sich einfach noch nicht lieben, höchstens vielleicht achten.
Diese gewisse Entspannung herrscht insbesondere extern, das heißt zwischen Bosnien-Herzegowina und seinen Nachbarstaaten sowie innerhalb der Jugoslawen in der Diaspora. Sie setzt keine besondere Nächstenliebe voraus, bloß Menschenverstand. Eine Versöhnung ist indes etwas schwieriger. Tatsache ist aber, dass die Trennung auf religiöser Grundlage innerhalb der Gebiete Bosniens südöstlich von Sarajevo, also zwischen verschiedenen Machtbereichen innerhalb desselben Staates, für ein modernes Land immer noch unerträglich und unzulässig ist. Die meisten wünschen sich jedoch, dass die Frage noch lange offen bleibt, denn die einzig mögliche "Lösung" wäre leider Gewalt.
Ich möchte meinen Gastgebern mehr Fragen stellen, aber sie möchten auch gerne mehr über mich erfahren: überfordert von der eindrucksvollen Menge an Essen, die von Latifa aufgetischt wird, vergesse ich für einen Augenblick, dass grundsätzlich ich derjenige sein sollte, der die Fragen stellt. Nun werde aber ich mit persönlichen und allgemeinen Fragen bestürmt. Zum Beispiel fragt mich Faruk, wie man den Tourismus in der Gegend Goraždes, insbesondere in dem Weiler Dučići, fördern könnte. Der Weiler trägt des Namen seines Vaters, wo er ein Ferienhaus vermietet. Ich will ehrlich sein und antworte, dass man aus dem deutschen Sprachraum wahrscheinlich nur junge Leute mit langem Haar auf der Suche nach Abenteurn und niedrigen Preisen hierher locken kann. Er denkt nach und antwortet: in Ordnung, sie sollen kommen, Hauptsache, sie zünden beim Kiffen nicht das ganze Haus an. Alles andere sei frei und erlaubt. Die ganze Familie lacht und die Stimmung ist fröhlich und entspannt.