Frankfurter Zeitung vom 9. August 1920 "Badischer Bahnhof"
O du ahnungsloser Reisender der du - vorwärts mit frisch an Mut- von Frankfurt nach Basel fährst! Freust dich mit Recht auf die große, bequeme, saubere Stadt voller Schönheiten für die Augen und ungewohnter Genüsse für Zunge und Magen: Butter, Milch, Eier, Käse ... weiße Linnen auf Tisch und Bett. Das ist das Leitmotiv deiner dort erfüllten Wünsche. Du, lieber Reisender, hast wohl nur so nebenbei vernommen, daß man, von Freiburg i. Br. kommend, auf dem B a d i s c h e n B a h n h o f, auf einer noch badischen Landzunge aussteigen muß und seit dem Kriege zwei Torbons von Helden in Helm und Käppi, mit strengen forschenden Blicken, zu passieren hat. Du bist ein harmloser Mann, führst gegen die Schweiz nichts Böses im Schilde, hast nur dein teuer erkauftes Schweizer Geld in der Brusttasche und deine deutsche Reservebarschaft irgendwo anders, bringst keine strafbare Margarine noch ein Stückchen unheimlicher deutscher Wurst mit. Dein Gewissen ist ruhig, dein Mund aber durstig, die Zunge klebt am Gaumen, von den Schläfen tropft es. 36 Grad im Schatten - und den gibt es nicht einmal, denn die deutschen Wagen haben keine Fenstervorhänge mehr, und du hast sieben Stunden ohne Erquickungstrost gebraten.
Badischer Bahnhof - aussteigen!
Im Hammelherdenschritt geht's durch kalkgetünchte Mauern mit glühendem Glasdach. Halt! Einer nach dem Anderen! Kaum haben wir's bemerkt, da sind wir schon in einem engen, von rohen Holzplatten abgegrenzten Gang, dicht aneinandergedrängt. Durch das Glasdach sticht die Sonne, der Schweiß rinnt. Ein Mann in Uniform mitleidslos, steif, hebt die Holzlatte, die immer nur Zwei, vielleicht-Drei, durch energischen Schub von hinten angetrieben, passieren dürfen. Auf einem Brett ist ein Plakat angebracht mit der Aufschrift: "Pässe bereit halten!". Ja, wir halten sie fest umklammert, die schwer errungenen Paßheftchen. Vorsichtig streckt man den Kopf seitwärts außerhalb der Holzlatte, um zu erspähen, was aus den zwei glücklichen Vordermännern geworden ist. Sie stehen da unten vor einem langen Tisch, der mit behelmten Soldaten besetzt ist. Brieftaschen werden beschnuppert, Pässe durchgeblättert. Dann verschwinden die mit geöffnetem Handgepäck hinter einer Wand, bleiben dort ein Weilchen und wandern schließlich in eine große, öde, im Bau begriffene Halle, wo sie wieder vor einem langen. diesmal von Schweizer Kriegern besetzten Tisch verhört werden. Wenn diese Verdächtigen freigesprochen sind, folgen die nächsten aus der langen elend harrenden Reihe übermüdeter Reisenden.
In meiner Nähe befand sich ein älteres Ehepaar, daß ich schon in Frankfurt hatte in die Bahn steigen sehen. Der Herr - anscheinend Franzose- ein ehrwürdiger Künstlerkopf, friedlich und freundlich gesonnen, aber sichtlich besorgt um seine bleiche Frau die sich kaum aufrecht halten konnte. Ihr Haar, wohl einst gewellt, hing in feuchten Strähnen unter dem eleganten Hütchen hervor. Das Gesicht ist Leichenfarben, sie wankt. Eine dicke Reisetasche und der Korb einer Frau vom Lande bohren sich ihr von hinten in Rücken und Knie und pressen die dicht gegen eine vor ihr stehende Leidensgefährtin in durchschwitzter rotseidener Bluse. Sie blickt verzweifelt ihren Mann an; der zuckt die Achseln. Da hörte ich, wie die Leidende ein gut deutsches: "O Gott, ot Gott, ich werde ohnmächtig!" hervorstößt. Der alte Herr stützt sie.
Eine neue Stoßwelle bringt mich dem Paar ganz nahe. Die alte Dame in ihrem vornehmen grauen Reisekleid sieht mich mit einst vielleicht schönen Augen wie hilfesuchend an. Ich drücke diskret mein Bedauern über ihre Qualen aus. Im Nebengang huscht ein junges Fräulein mit einem Passierschein lächelnd an uns vorüber. Hinter ihr senkt sich sofort die Barriere wieder. Die Dame in Grau sagt in anheimelnden Tonfalle: "Warum kommt die denn durch?". Ich denke bei mir: "Vorortverkehr".
Bald darauf war ich unfreiwilliger Zeuge einer Auseinandersetzung über das Verhältnis der deutschen Dame zu dem Franzosen. Dieser und ich wurden endlich durchgelassen. Und der Balken wollte sich, die Gatten trennend, wieder senken, als der alte Herr ihn mit einer schnellen Gebärde erfaßte und hochhielt, indem er dem Soldaten zurief: "Monsieur, ma femme!". Das wurde denn doch respektiert, und auch die Dame durfte nun doch die Sperre passieren, die hinter uns zufiel.
Aber jetzt geht's in die Halle der Eidgenossenschaft. Auch hier kahle Wände. Durch hohe Glastüren sieht man im Schein der untergehenden Sonne die Stadt Basel. Die braven Deutschschweizer mit hoch geschnallten Ledergurt und Käppi zerpflücken mit roten Händen die Pässe und mustern verständnislos die Visa. Jeder hat ein großes Blatt vor sich: die Kontrolle. Da werden mit Blei alle harmlosen Reisenden (die gefährlichen kommen selten hierher) nach Paß und Angaben aufnotiert, als könnte es sich um eine Einbrecherschar handeln, die die Schweiz ausrauben will.
Jetzt nehmen die den Paß der deutsch-französischen Dame vor. Ich sehe, wie ihnen die dicken Tropfen von der Stirn über die Nase auf den Kontrollbogen laufen. Sie werden nicht klug aus dem Lebenslauf der Paßinhaberin. Nach einigen unverständlichen Vokabeln und wütenden Blicken schreien sie herüber: "Oú étes-vous?"
"Hier!" sagt die Dame.
"Wir wollen nicht wissen, wo Sie sind" herrscht die der Schweizer an, der die Frau für taub zu halten scheint, "sondern v o n wo?"
Dann sagt man d'où", erwidert die Angeschriene. "Wir kommen von Frankfurt."
Der gesamte Grenzschutz, fünf blaue Augenpaare, blicken entsetzt auf die elende Frau.
"Sind Sie Deutsche?" ruft jetzt ein langer Magerer herüber, der die fünf Sitzenden durch besondere Intelligenz beraten soll. Darauf erwidert die Dame: "Von Geburt ja, aber verehelichte Französin."
"Was Sie von Geburt sind, brauchen wir nicht zu wissen!. Wo wohnen Sie?"
"In der Schweiz, am Genfer See."
"Verstehen sie denn nicht deutsch! Hol's der ..." brüllt außer sich der schwitzende Grenzverteidiger. "wo sind Sie hingehörig? Das müssen Sie doch wissen ... In Ihrem Alter! Sie sind doch keine Schweizerin."
Die Frau hat Tränen der Hilfslosigkeit in den Augen. Ihr Mann sucht vergeblich den Wortkampf zu begreifen. Als die Beängstigte auf die letzte Frage antwortet:
"Ich gehöre zu meinem Manne!" erschall an dem schwitzenden Kontrolltisch ein eidgenössisches Gelächter, das vielleicht nur noch durch Alphorngebläse hätte übertönt werden können. Alle sprechen durcheinander, ein Kauderwelch, kein Deutsch mehr; jeder die Sprache seines Heimatkantons. Die "Französin durch Heirat" aber starrt auf ihrem der Revision harrenden Koffer sitzend, wie abwesend auf den langen Tisch. Schließlich biete ich mich den braven Grenzwächtern an, Klarheit zu schaffen.
"Monsieur ist aus Marseille," sagt mir der eine Soldat. "Seine Frau ist aus Charlottenburg in Preußen. Halten die das für möglich?"
"warum nicht`Vor dem Kriege konnte so etwas passieren." "Aber die hat doch keine Ortsangehörigkeit!"
"Da Madame, wie sie sagt, zu ihrem Manne gehört, ist es Marseille."
Nun nicken alle Fünf wie befreit. Im Kontrollbogen steht fünfmal "Marseille".
Der französische Herr wird gefragt: Beruf ...profession?"
"Ecrivain."
Der Soldat sagt: "Was ist das?!
Ein anderer ruft ihm zu: "Schreiber".
"Ach so! ... Bei der Post?"
"Non, privat."
Die Dame auf dem Koffer erwacht. Es wird dunkel. Man wirft kaum noch einen Blick in den Koffer aus Frankfurt. Seit unserer Ankunft in Basel sind zwei Stunden verflossen. Der französische Herr lüftet grüßend den Hit, wie zum Dank, daß ich eingeschritten bin. Wir treten auf den Platz vor dem Bahnhof. Er ist leer. Kein Wagen, kein Auto. Ein Träger bringt den schweren Koffer und stellt ihn vor die von der Vorhalle zum Platz herabführenden Stufen.
"Warten Sie nur hier, Herrschaften. Es kommt schon mal ein Wagen vorbei."
Er fordert barsch, als ob er es eilig hätte, seinen Durst zu stillen, seinen Lohn und verschwindet. Das französische Paar sieht sich verdutzt an. Als ich, zur Elektrischen hinabgestiegen, mich noch einmal umblicke, sehe ich, wie die Beiden jetzt auf dem Koffer sitzen. Der Herr zündet sich eine Zigarette an. Die Frau sieht in den stillen leeren angrenzenden Straßen ein Gefährt zu erspähen.
So im Abendschein, gleich Schiffbrüchigen, einsam auf dem Koffer sitzend, erschienen mir meine beiden Reisegenossen wie eine Monumentalgruppe für den Platz vor dem Badischen Bahnhof.
S.G.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
besten Dank für den freundlichen Hinweis zur nicht korrekten Textübertragung im vierten Kapitel "Der schweizerische Konsul (für die Provinz Hessen-Nassau, das Grossherzogtum Hessen und die Rheinprovinz)". Ich bedauere den Fehler sehr und bitte diesen zu entschuldigen!
Ich möchte an dieser Stelle aber auch meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie sich der Mühe unterzogen haben den langen Textbeitrag sehr aufmerksam zu lesen.
Mit weihnachtlichen Grüßen in die Landeshauptstadt
Jens-Holger Jensen
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sehr geehrter Herr Kollege Jensen,
bitte überprüfen Sie die Transkription:
"Ich bitte Sie dementsprechend sich um den von mir übernommenen Pflichten entbinden zu wollen.
Ich bitte Sie dementsprechend mich von den von mir übernommenen Pflichten entbinden zu wollen."
LG
Felix Gabor
Stadtteilhistoriker Wiessbaden
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Ihre L.I.S.A.Redaktion
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