Saudi-Arabien spielt als die größte Volkswirtschaft im Mittleren Osten eine zentrale Rolle in der Region und hat weitreichenden Einfluss in Politik, Religion und Medien – und doch ist die Forschung dazu außerhalb des Königreiches sehr gering, insbesondere zu seiner modernen Geschichte. Abseits von Öl und Politik ist die moderne Geistesgeschichte noch weitgehend unerforscht, bedingt durch Einreisebeschränkungen für Forscher und die Notwendigkeit sehr guter Arabischkenntnisse, was ein Verständnis des Landes und seiner Gesellschaft erschwert. In meinem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Contemporary Historiography in Saudi Arabia“ erschließe ich mehr von dieser Geschichte und möchte gleichzeitig den Austausch zwischen Historikern im Königreich und in Europa verbessern.
Ich habe dieses Projekt nach meinen Diplomstudien in Arabistik und Geschichte an Universität Wien begonnen, als ich von 2007 bis 2008 ein Jahr lang als Deutschlektor an der King Saud University in Riad arbeitete und mein Interesse am Königreich sehr vertiefte. Während meines Aufenthaltes sammelte ich viel Literatur und knüpfte viele Kontakte und auch Freundschaften mit saudischen Historikern, die mir fortan von großem Nutzen gewesen sind. Anschließend seit 2008 habe ich als Doktorand an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London, betreut von Dr. Konrad Hirschler an der eigentlichen Forschung gearbeitet. 2009 bin ich außerdem als Gastwissenschaftler am King Faisal Center for Research and Islamic Studies in Riad für Forschungen vor Ort, und von dort aus schreibe ich diese Zeilen.
Ziel meines Projektes ist es, die moderne Entwicklung von Geschichtsschreibung in Saudi-Arabien von etwa 1930 bis in die Gegenwart zu erforschen und damit zugleich ein besseres Verständnis der Entwicklung von Bildung und intellektuellen Strömungen im Land zu gewinnen. Ich argumentiere dabei, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein besonderes Spannungsverhältnis entwickelt hat, das Aufschlüsse über die wichtige Frage nach nationaler Identität in dem jungen Königreich gibt. Dieses Verhältnis besteht zwischen einer dominanten Tendenz in der Geschichtsschreibung, welche die Geschichte des Landes auf die des Hauses Saud und des saudischen Staates vom 18. Jahrhundert an reduziert, und einer zweiten vielfältigen, von vielen Individuen getragenen Tendenz , die Geschichte von Regionen, Stämmen und Epochen mit nicht saudischer Herrschaft zu schreiben und teilweise in die Geschichte des Landes zu integrieren sowie zu neuen Interpretationen der Geschichte des Landes zu gelangen. Die Entwicklung beider Tendenzen bis heute erforsche ich vor dem Hintergrund von politischen Entwicklungen – wie dem Verlust von Vertrauen in den Staat durch die Bedrohung in der Golfkrise 1990 und die folgende Verstärkung von Stammeszugehörigkeiten – und der sehr schnellen Entwicklung moderner universitärer Lehre und Forschung finanziert durch den Ölexport. Hierbei möchte ich auch zeigen, dass Geschichtsschreibung selbst in einem strengen Umfeld mit starken politischen und sozialen Sensibilitäten Möglichkeiten für den Ausdruck verschiedener Identitäten und neuer Interpretationen eines Staates und eines Landes bietet.
Bis zum Abschluss des Projektes im Jahre 2011 werde ich dazu mit Hilfe von Saudis die außerhalb Saudi-Arabiens weitgehend unbekannte Literatur, wie etwa Lokalgeschichten, sowie Quellen zur Entwicklung historischer Forschung und Lehre an saudischen Universitäten und Forschungsinstituten erschließen und analysieren, und außerdem zahlreiche saudische Historiker interviewen und mich mit ihnen austauschen. Als Ergebnis plane ich dabei ein Buch, das sowohl Saudis als auch Nichtsaudis ein neues Verständnis eines sehr wichtigen Feldes der Geistesgeschichte dieses zentralen Landes des Mittleren Ostens ermöglichen soll. Zugleich möchte ich in dem Projekt Beziehungen zwischen Forschern vertiefen und gegenseitiges Vetrauen aufbauen – in dem ich etwa als Mitglied der Saudi Historical Society in Riad aufgenommen worden bin –, was zu weiterer kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Historikern in Saudi-Arabien einerseits und Deutschland und Europa andererseits und zukünftigen Projekten beitragen soll.
Aktuelle Ergebnisse des Projektes werde ich im Juli 2011 auf dem dritten World Congress for Middle Eastern Studies (WOCMES) in Barcelona präsentieren:
Siehe: http://wocmes.iemed.org/en/paper-saudi-state
Mehr Informationen über mich und meine Forschungsarbeit sind auf der Webseite der SOAS zu finden:
Siehe: http://www.soas.ac.uk/staff/staff47766.php
Beitrag verfasst von Matthias Determann am 21. Oktober 2009 in Riad für LISA
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herzlichen Dank für deinen Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe.
Ja, nach Saudi-Arabien zu reisen und dort Feldforschung zu betreiben ist nicht immer leicht, da die Einreisebestimmungen und Gesetze dort streng sind. Dass es in Saudi-Arabien auch kein Goethe-Institut gibt, zeugt von dieser Schwierigkeit. Aber ich finde, dass Erforschung dieses Landes und der Austausch mit Kollegen dort sehr wichtig ist, und zwar beides gemeinsam. Wie will ein ausländischer Forscher von Saudis Verständnis und Hilfe etwa beim Nutzen von Archiven dort gewinnen, wenn Saudis aufgrund mangelndes Austausches nicht einmal die geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fragestellungen verstehen, mit denen der Forscher an sie herantritt? So kann mangelnder Austausch zu Misstrauen und Verdächtigungen bei den Saudis führen, deren Hilfe wir ausländische Forscher ja brauchen. Vielleicht nach dem Motto: Warum genau will dieser westliche Besucher diese Akte über Bevölkerungsstatistiken bei uns sehen? Was hat er vor? (Besser gebe ich sie ihm einmal nicht.)
Aus diesem Grund diskutiere ich die Hypothesen und Erkenntnisse meiner Arbeit auch sehr gerne mit saudischen Historikern und Intellektuellen und wünsche mir, dadurch mehr Vertrauen für die Zukunft zu schaffen, auch für andere Forscher, die ins Königreich oder die weitere Region reisen. Dieses Vertrauen hoffe ich, erreicht auch weitere Personen außerhalb der Forschung, und, wie du richtig schreibst, kann auch ein diplomatischer Dienst sein, gerade in Ländern, wo der kulturelle Austausch mit Deutschland und Europa eher gering ist.
Liebe Grüße aus Wien, wo ich gerade bei meinen Eltern und Brüdern über Ostern bin,
Matthias
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