Während Johann Sebastian Bachs 27jähriger Leipziger Amtszeit durchliefen nicht weniger als 300 Knaben im Alter zwischen 9 und 20 Jahren seinen Unterricht. Der Thomanerchor bestand im 18. Jahrhundert aus 55 Alumnen, die in der Leipziger Thomasschule nicht nur sangen und unterrichtet wurden, sondern hier auch lebten und den Großteil ihrer Jugendjahre verbrachten. Ihr Schulgeld finanzierten sie durch Singedienste für die Leipziger Bevölkerung ‒ sie waren zu Hochzeiten, Begräbnissen, aber auch und vor allem während der Gottesdienste in den Stadtkirchen zu hören. So sangen sie nicht nur in der Thomaskirche, sondern hatten auch wöchentlich alternierend die Frühgottesdienste in der Nikolaikirche mit Musik zu versorgen. Kleinere Gruppen des Chores wurden von Bach parallel dazu zu Singediensten in die beiden Nebenkirchen (Neue Kirche und Peterskirche) entsandt, wo vor allem Motettengesang erklang; die Kantaten des Thomaskantors blieben den Gottesdiensten der Hauptkirchen vorbehalten.
Wer dürfte also besser über Johann Sebastian Bachs Kirchenmusikaufführungen Bescheid gewusst haben als die Mitglieder seines Chores? Von dieser Überlegung ausgehend nimmt das Bach-Archiv Leipzig das aktuelle Jubiläum zum 800jährigen Bestehen des Thomanerchores zum Anlass, den Spuren der Bachschen Sänger nachzugehen. Zwar sind der Bach-Forschung die Biographien der vermeintlich bedeutendsten Leipziger Schüler des Thomaskantors schon lange bekannt; etwa jene des späteren Organisten in Zwickau, Zeitz und Altenburg Johann Ludwig Krebs oder des nachmaligen preußischen Hofkomponisten Johann Friedrich Agricola. Doch eine systematische Auswertung der Thomaner-Biographien wurde bislang nicht angegangen. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass viele der heute verfügbaren Quellen bis 1990 in Archiven lagerten, die der Öffentlichkeit und damit auch den Wissenschaftlern, die sich mit Bach und seinem berühmten Chor beschäftigten, nicht zugänglich waren.
Das Forscher-Team des Bach-Archivs wird geleitet von PD Dr. habil. Peter Wollny und koordiniert von Dr. Michael Maul. Die zahlreichen Reisen in die Bibliotheken und Archive Mitteldeutschlands werden mit Geldern der Gerda Henkel Stiftung finanziert, die auch zwei am Bach-Archiv angesiedelte Promotionsstellen geschaffen hat, um das Projekt im Förderzeitraum von zwei Jahren abschließen zu können. Die Wissenschaftler suchen nach Quellen, die Auskunft über die weiteren Lebenswege der Thomaner geben, aber auch nach autobiographischen Aufzeichnungen oder Briefen, in denen die Alumnen über ihre Zeit an der Schule berichten. Dabei stehen die Chancen für derartige Funde in der Tat ziemlich gut. Eine erste statistische Auswertung der zeitgenössischen Schülerlisten, die erst kürzlich von Dr. Michael Maul im StadtArchiv Leipzig wiederentdeckt worden sind, hat ergeben, dass über die Hälfte von Bachs Thomanern später selbst in den Dienst der Kirche traten; sie wurden Pfarrer, Kantoren oder Organisten. Die Stellenbesetzungsakten für diese Ämter haben sich fast durchgehend erhalten und warten oft nicht nur mit einem Bewerbungsschreiben des ehemaligen Bach-Schülers auf, sondern enthalten auch regelmäßig selbstverfasste Lebensläufe der Bewerber sowie handschriftliche Zeugnisse ihrer Leipziger Lehrer.
Doch auch abseits des Kirchendienstes waren Bachs Thomaner gefragte Musiker. So avancierte Johann Gottlieb August Fritzsche ‒ Thomaner zwischen 1740 und 1745 ‒ gegen Ende der 1740er Jahre zu einem der beliebtesten Komponisten der Leipziger Kaffeehausbühnen. Hier hatte schon Bach mit seinem Collegium musicum regelmäßig die Leipziger Bürger mit Konzerten unterhalten. Nun, da der alternde Thomaskantor sich aus diesem Geschäft zurückgezogen hatte und das Leipziger Konzertwesen sich zu einem professionellen Konzertbetrieb im heutigen Sinne zu wandeln begann, war es also einer seiner Schüler, der daran einen maßgeblichen Anteil hatte.
Dass auch jene Thomaner, die unter den berühmten Vorgängern und Nachfolgern Johann Sebastian Bachs die Schule besucht hatten, im weiteren Verlauf ihres Lebens gewichtige Beiträge zur Musikgeschichte leisteten, zeigen die Biographien von Reinhard Keiser (Kapellmeister der Hamburger Oper), Christoph Graupner (Hofkapellmeister in Hessen-Darmstadt), Johann Friedrich Fasch (Hofkapellmeister in Anhalt-Zerbst) und Johann David Heinichen (Hofkapellmeister in Dresden). Eine systematische Auswertung der Lebensläufe von deren Leipziger Mitschülern ‒ sie alle besuchten das Thomasalumnat im ausgehenden 17. Jahrhundert ‒ kann aktuell nicht geleistet werden, so dass auch für zukünftige Forschungen viel zu tun bleibt.