Von Adl. Paddeim früh abgerückt nach Labiau, wo wir verladen werden, wahrscheinlich nach Galizien. Wir wissen nicht. Unsere Route ist uns nur bis Dirschau angegeben. So ist auch dieser zweite, ostpreussische Feldzug zu Ende. Allgemeine Eindrücke: die Russen haben hier weniger wüst und grausam gewirtschaftet, als gesagt wird. Authentisch lassen sich hauptsächlich Plünderungen und kleine Raube (Taschenuhren) feststellen, weniger Brandstiftungen, Notzuchtsfälle, Morde. Sehr schlimm und empörend ist allerdings, wie sie die jungen Burschen überall geraubt haben. Die Ostpreussen selbst sind in meiner Achtung und Sympathie nicht gestiegen. Die Flüchtlinge sind vielfach zu Plünderern geworden und die kleinen Gutsbesitzer haben zum Teil eine gemeine, vollkommen unpatriotische Gesinnung an den Tag gelegt. Dohna, Marschall, Brocken, Fülscher denken darüber genau so wie ich. Auch hat es auffallend viele Landesverräter und Spione unter der einheimischen Bevölkerung gegeben. Am besten und sympathischsten sind mir die Bauern vorgekommen, namentlich die etwas besser situierten. – Um 3.28 Na abgefahren aus Labiau. Abends um 7 in Königsberg, wo vom Roten Kreuz auf dem Güterbahnhof verpflegt.
19 September. 1914. Sonnabend. Labiau
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
CC-BY-SA 3.0, Nachlass von Eduard Scheer: Postkarten, Peter Otto Grupp (Europeana 1914-1918)