Menschenrechte stehen in einem komplementären Spannungsverhältnis zu Universalismus einerseits und Partikularismus andererseits, den zwei zentralen Katergorien der Kolleg-Forschungsgruppe (KFG), die von der Historikern Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, Prof. Dr. Kiran Klaus Patel und Prof. Dr. Andreas Wirsching an der LMU München geleitet wird. Nachdem Professor Schulze Wessel den Schwerpunkt Religion und Professor Patel den Angelpunkt Wirtschaft im Rahmen der KFG erläutert haben, stellt Professor Wirsching im dritten Interview den Topos Menschenrechte vor.
"Wir beobachten eine zunehmende Feindseligkeit gegen das universalistische Prinzip der Menschenrechte"
L.I.S.A.: Herr Professor Wirsching, Sie sind einer der drei wissenschaftlichen Leiter der Kolleg-Forschungsgruppe "Universalismus und Partikularismus in der europäischen Zeitgeschichte" (KFG) an der LMU München. In unserem Interview mit Ihren Kollegen und Co-Leitern Professor Martin Schulze Wessel und Professor Kiran Klaus Patel haben beide betont, dass es keine klare Zuordnung für die drei Bereiche Religion, Wirtschaft und Menschenrechte gebe. Gleichwohl bestehen gewisse inhaltliche und organisatorische Zuständigkeiten. Wie würden Sie Ihre beschreiben?
Prof. Wirsching: Ich würde auf jeden Fall daran festhalten, dass es keine personelle Zuordnung für die drei Bereiche gibt. Jeder von uns dreien ist genuin an jedem Thema interessiert und aus seinen jeweiligen Forschungsbereichen heraus auch (teil-)kompetent. Dass ich jetzt die Verantwortung für das Thema „Menschenrechte“ übernommen habe, hat sich aus der Pragmatik der Arbeit ergeben.
L.I.S.A.: Menschenrechte sind allein schon begrifflich universell gefasst: Rechte, die für alle Menschen gleichermaßen gelten (sollen). Die Kolleg-Forschungsgruppe führt den Begriff Universalismus in ihrem Titel, aber auch den Begriff Partikularismus. Wie passen bei letzterem die Menschenrechte inhaltlich dazu? Kann es partikulare Menschenrechte überhaupt geben?
Prof. Wirsching: Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (VN) vom Dezember 1948 ging von einem holistischen, das heißt allumfassenden und damit auch statischen Universalismus-Begriff aus. Die offizielle Menschenrechtspolitik der VN tut das im Grunde bis heute, so etwa, wenn universale Menschenrechte mit partikularen kulturellen Rechten in einen gemeinsamen Rahmen gebracht werden. Universalismus und kulturelle „Diversität“ (oder auch partikulare Positionen) werden damit als sich nicht gegenseitig ausschließend, sondern als komplementär betrachtet und damit harmonisiert. Heute ist der entsprechende Optimismus vergangen. Wir beobachten eine zunehmende Feindseligkeit gegen das universalistische Prinzip der Menschenrechte, ausgehend häufig von autoritären politischen Systemen, aber auch im Namen „traditioneller Werte“ wie dem „Schutz der Familie“, womit die zentrale Frage der Rolle der Frauen adressiert ist, oder auch der „religiösen Freiheit“.
Für die Kolleg-Forschungsgruppe ist es zentral, dass wir einen dynamischen Begriff von Universalismus entwickeln. Ein statisches oder auch holistisches Prinzip des Universalismus wäre ahistorisch und analytisch irreführend. Konkret bedeutet das: Auch im Hinblick auf die Menschenrechte entstehen im historischen Prozess gleichsam Kipp-Punkte, an denen universal gedachte Konzepte in partikulare Positionen übergehen, wie umgekehrt partikulare Positionen nicht selten universale Ansprüche erheben.