Die Schrecken des Gaza-Krieges und das Erschrecken über antisemitische Parolen auf – nicht nur – deutschen Straßen sind noch immer in frischer Erinnerung. Für den Flug der Eule der Minerva ist es deshalb noch zu früh, wir stecken noch mittendrin in den Ereignissen. So oszillierte die Podiumsdiskussion des Jüdischen Museums Frankfurt am 23.9.2014 denn auch zwischen Betroffenheit und analytischer Aufarbeitung, wobei, wie vor allem die Wortmeldungen aus dem Publikum zeigten, die Betroffenheit eher überwog.
Schon wieder: Antisemitismus auf deutschen Straßen
Podiumsdiskussion des Jüdischen Museums Frankfurt mit Daniel Cohn-Bendit, Micha Brumlik und Stefanie Schüler-Springorum
Mylius, GNU Free Documentation License, Version 1.2 (Wikipedia)
Zunächst einmal waren alle drei Diskussionsteilnehmer bemüht „Alarmismus“ zu vermeiden, ohne die antisemitischen Parolen und Ausschreitungen zu verharmlosen. Cohn-Bendit wies darauf hin, dass die Ausschreitungen in Frankreich sehr viel „härter“, „radikaler“ gewesen seien. Es sei wenig hilfreich in Panik zu geraten, vielmehr sei erforderlich, aufklärend auf die jeweiligen „Subkulturen“ einzuwirken, wobei er offenbar in erster Linie die islamische Subkultur im Auge hatte. Die „Subkultur“ des Rechtsradikalismus wurde nur am Rande erwähnt, ebenso das nach Auschwitz noch immer vorhandene Urgestein des deutschen Antisemitismus, wozu Brumlik anmerkte, dass es mittlerweile eine Art Kultur des gesellschaftsfähigen Antisemitismus gäbe, der sich antizionistisch maskiert.
Wie heikel das Problem des im Antizionismus verkappten Antisemitismus ist, wurde ebenfalls von Brumlik – Experte auf dem Gebiet des Zionismus – dargelegt. Ist die Kritik am „jüdischen“ Staat, also einem Staat der die Araber als nicht gleichberechtigt betrachtet, bereits antisemitisch? Er bezweifle es. Cohn-Bendit gab sich da radikaler. Wer damit beginne: „Man dürfe ja wohl noch sagen …“ würde mit Sicherheit antisemitisch argumentieren. Die dialektische Pointe des Brumlikschen Monitums ist jedoch, dass die Tabuisierung antizionistischer Kritik tatsächlich genau diesen „Sarrazin-Effekt“ bewirkt. Als jüngstes Beispiel mag eine Äußerung des nicht gerade wortkargen Jakob Augstein in einer Talkshow gelten, der beim Stichwort „Israel“ sagte, dazu werde er sich nicht äußern. Das ist gewissermaßen die Negativform des Sarrazineffekts: man will sich zu Israel nicht äußern. Produktiv für die notwendige antirassistische Diskussion ist das nicht.
Cohn-Bendit ließ sich allerdings auch zu der riskanten These hinreißen, dass die Juden nirgendwo so sicher seien wie in Deutschland (Unmut im Publikum!). Ein sichtlich aufgebrachter Zuhörer warf den Podiumsteilnehmern anschließend vor, sie hätten die Gefahr für Juden in Deutschlang verharmlost. Hier hätte man sich von der Moderatorin Esther Schapira (Hessischer Rundfunk), die ansonsten ausgezeichnet agierte, gewünscht, dass sie sich schützend vor die Diskussionsteilnehmer gestellt hätte, zumal das angeführte Beispiel für die Bedrohung der Juden problematisch war. Einem Freund, der in der Öffentlichkeit – der „Hauptwache“ in Frankfurt - die Kippa trug, sei nämlich von einem Polizisten empfohlen worden, dies nicht zu tun, er könne sich damit gefährden. Das Beispiel ist ambivalent: einerseits liegt der Polizist angesichts der aufgeheizten Situation nicht völlig falsch, ein radikaler Salafist beispielsweise hätte tatsächlich aggressiv reagieren können. Er hatte ihn also auf eine mögliche Gefährdung hingewiesen. Andererseits ist es demütigend und ängstigend, in dieser Weise auf sein Judensein hingewiesen zu werden. Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin), die sich insgesamt zurückhielt, wies vorsichtig auf diese Ambivalenz hin.
Das Kippa-Beispiel erhellt ein Phänomen, das man als Feedback-Spirale der Bedrohung bezeichnen kann (es gleicht darin der Dialektik der Kritik der Zionismus-Kritik). Es ist einerseits richtig, auch den scheinbar beiläufigen Details des Antisemitismus Aufmerksamkeit zu schenken, andererseits kann übertriebene Detailfixierung dazu führen, dass jedes Detail in einer art self-fullfilling prophecy als Bestätigung und Verstärkung der Vorannahme wirkt. Ein Beispiel: wenn etwa Tuvia Tenenbom, Autor eines problematischen Buches über „die“ Deutschen und selbst nicht frei von rassistischen Vorurteilen, in den „Stolpersteinen“ vor Häusern, in denen früher Juden lebten, einen Beweis für die deutsche Judenfeindlichkeit sieht, landet man schnell – wie Tenenbom - bei der Vorstellung einer allumfassenden Bedrohung, ein Topos, der bekanntlich von rassistischer Propaganda ausgeschlachtet wird[1].
Cohn-Bendit nahm den in erster Linie an ihn gerichteten Vorwurf gelassen hin. Er verwies auf einen Film, den er vor vielen Jahren gedreht hatte. Drei Viertel der von ihm befragten Juden hätte ihm versichert, dass sie auf gepackten Koffern säßen und an Emigration dachten. Nicht ohne Sinn für Dramaturgie fügte er hinzu: „Sie sind heute alle noch da“.
Was schließlich zu der Frage führte, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Diskussion zog: Fühlen sich Juden derzeit bedrohter als noch vor einigen Monaten? Das bemerkenswerte Ergebnis: wissenschaftlich ist dies, wie Schüler-Springorum - mit Unterstützung durch Brumlik - bemerkte, nicht nachweisbar. Es gibt Kurven des „Bedrohungsgefühls“, aber keinen eindeutigen Nachweis, dass sich dieses Gefühl verstärkt hat.
Die Diskussion zeigte eine gewisse Ratlosigkeit bei der Frage, ob der Antisemitismus eine besondere Form des Rassismus sei, etwa durch die Insinuierung einer weltumspannenden Bedrohung und Verschwörung durch das Judentum, was ja im Anti-Ziganismus offensichtlich nicht der Fall sei. Die Fragestellung ist ein wenig naiv: jede Form von Rassismus und Xenophobie hat notwendigerweise eine besondere ideologische Struktur, aber ihre psychischen Mechanismen sind ähnlich[2]. Die deutschen Ausländerfeinde beispielsweise befürchten keine Weltverschwörung durch Muslime, sondern die Überfremdung des Deutschtums, der deutschen Kultur, die Verunreinigung des „Volkskörpers“. Damit wären wir allerdings bei einer viel weitergehenden Frage: was ist eigentlich die deutsche „Leitkultur“, die wir auftrumpfend den Muslimen (und nicht nur diesen), wirtschaftspolitisch halb Europa entgegenhalten?
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[1] Tuvia Tenenbom, Das falsche Verständnis, Die Zeit, 17.Juli 2014 [2] Zum Verständnis der psychischen Mechanismen von Antisemitismus und Rassismus sind noch immer die Studien zum autoritären Charakter (Adorno u.a,) richtungweisend. Die sog. F- bzw. A-Skala wurde in der Nachfolge Adornos mehrfach überarbeitet, in der Grundstruktur jedoch beibehalten. Ergänzend dazu sind die Milgram-Experimente zum Phänomen der autoritären Unterwürfigkeit relevant. Neuere empirische Ergebnisse haben die Bielefelder Untersuchungen zum Rechtsradikalismus erbracht.