Chatzoudis: Ich freue mich heute Prof. Dr. Nida-Rümelin als Gesprächspartner am Telefon zu haben. Sie sind Professor für Philosophie und politische Theorie an der LMU in München und ehemaliger Staatsminister. Sie haben ein neues Buch geschrieben und darüber würde ich gerne mit Ihnen sprechen. Es ist in diesem Jahr in der Edition Körber erschienen und hat den Titel "Die gefährdete Rationalität der Demokratie", der Untertitel "Ein politischer Traktat". Daraus würde ich gerne einige zentrale Argumentationen aufgreifen wollen. Doch bevor wir dazu kommen, ist schon der Titel verlockend genug, um eine Frage zu stellen, denn ich möchte von Ihnen zunächst gerne Folgendes wissen: Was verstehen Sie unter der Rationalität der Demokratie, was bedeutet eigentlich Rationalität der Demokratie und wie kommen hier Ratio und Demokratie zusammen?
Prof. Nida-Rümelin: Ja, das ist der Inhalt des Buches, wenn man so will. Die Antwort auf Ihre Frage gebe ich in insgesamt 24 kurzen Kapiteln. Die These ist, dass die Demokratie gegenwärtig eine Menge von Herausforderungen zu bewältigen hat. Ich gehe auch teilweise auf die Herausforderungen ein, Populismus ist eine von ihnen, die Neue Rechte, Identitäre Rechte eine andere, die sich manchmal mit Populismus verbindet. Aber es gibt ein grundlegenderes Problem und dem stelle ich mich mit diesem Buch, nämlich ein angemessenes Verständnis von Demokratie zu entwickeln. Das haben wir nicht.
Ich behaupte mal, wenn Sie auf die Straße gehen und Leute fragen, was ist Demokratie, antworten neun von zehn: wenn die Mehrheit entscheidet. Und das ist falsch. Die Demokratie ohne die Garantie individueller Rechte und Freiheiten ist keine Demokratie. Da positioniere ich mich übrigens auch entgegen der Rhetorik des Bundesverfassungsgerichtes, das regelmäßig zwischen Demokratieprinzip und Rechts- oder Rechtsstaatsprinzip unterscheidet. Es gibt keine Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit, es gibt keine Demokratie ohne die Garantie individueller Freiheiten und Rechte. Warum? Weil Mehrheit zu nichts legitimiert, sondern das, was legitimiert, ist die Zustimmungsfähigkeit einer politischen Ordnung. Stellen Sie sich einmal vor, Sie lebten in einer Kultur, in der - das gibt es ja weltweit oft genug - sechzig Prozent die eine Sprache sprechen und vierzig Prozent eine andere Sprache und mit diesen zwei Sprachen auch kulturelle Unterschiede und unterschiedliche Interessen einhergehen. Wenn Sie dort eine Demokratie ohne Minderheitenschutz, ohne Individualrechte etablieren würden, was keine echte Demokratie wäre, dann hätten Sie dort schlicht eine Diktatur von sechzig Prozent über vierzig Prozent. Eine Diktatur kann keine Demokratie sein. Das heißt, wir sitzen einem weit verbreiteten Selbstmissverständnis der Demokratie auf, wenn wir sie auf ein Entscheidungsverfahren reduzieren. Und damit hängt wiederum die populistische Rhetorik und deren Wirksamkeit zusammen, die nämlich sagt, ja, eigentlich ist das doch gar keine Demokratie, der Volkswille wird ja gar nicht umgesetzt, weil es da Gerichte gibt, weil es da gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier gibt, die gar nicht das tun, was das Volk jeweils will.
Nein, ein vernünftiges Staatsvolk wird auf keinen Fall wollen, dass die jeweiligen Mehrheitsmeinungen zur Politik gerinnen, denn das gäbe mit Sicherheit ein fürchterliches Chaos und dazu gibt es auch interessante Theoreme, auf die ich eingehe und die ich präsentiere. Also etwa das Error Theorem, das zeigt, dass wenn wir in einer direkten Demokratie lebten und alle beliebige Vorschläge machen könnten und alle sich an den Entscheidungsfindungen beteiligen würden, dann würde mit der Wahrscheinlichkeit von hundert Prozent ein Chaos in der Gestalt herauskommen, dass nämlich die Präferenzen, die Entscheidungen zyklisch werden. Das heißt, wir würden A gegenüber B vorziehen und B gegenüber C, aber dann nicht A gegenüber C, sondern C gegenüber A vorziehen. Das heißt, die Katze beißt sich in den eigenen Schwanz und wir kämen so nie zu einer kohärenten Politik.
Chatzoudis: Ich bleibe trotzdem noch mal beim Begriff der Rationalität. Den übersetzen Sie oft mit dem Begriff der Vernunft, so kommt er in Ihrer Argumentation häufig vor. Wie Sie sagen, und das wäre auch meine empirische Erfahrung, würden die meisten auf die Frage „Was ist Demokratie?“ antworten: wenn die Mehrheit entscheidet. Wie begründet sich dann aber die Vernunft, wenn die Demokratie nach Ihren Kriterien von den meisten eher unvernünftig verstanden wird? Wo holen wir die Vernunft her?
Prof. Nida-Rümelin: Die Frage ist sehr berechtigt und deswegen muss ich leider ein bisschen in die philosophische Tiefe gehen. Ratio ist nicht im engeren Sinne unbedingt Vernünftigkeit, sondern erst mal die Art und Weise, wie etwas entschieden wird. Die spezifische Rationalität der Demokratie meint zunächst einmal die besonderen Verfahren, die besonderen Kriterien und Institutionen, die eine entwickelte, substantielle Demokratie ausmachen. Das meine ich mit der besonderen Rationalität. Damit will ich nicht suggerieren, dass es in der Demokratie oder in der Politik immer hoch rational zugeht. Das wäre ein Missverständnis. Sondern es gilt erst mal zu verstehen, was sozusagen die Logik ist, man sagt manchmal auch die Logik der Demokratie. Wie funktioniert dieses System? Und das kenne ich sowohl aus der Perspektive eines Wissenschaftlers, Philosophen und Politikwissenschaftlers - ich habe das Institut für Politikwissenschaft in München geleitet - als auch aus der praktischen Perspektive. Ich habe erlebt wie diese Institutionen funktionieren. Und das unterscheidet sich oft deutlich von dem, was in Lehrbüchern, auch in den Schulen, nachzulesen ist.
Chatzoudis: Wenn wir davon ausgehen, dass Demokratie mit Ratio verbunden sein sollte, dass unsere demokratischen Verfahren von der Vernunft gesteuert sein sollten, wie passt das wiederum mit Ihrer Argumentationsfigur des humanistischen Ethos zusammen? Denn ich würde einfach mal unterstellen, Ratio hat eher etwas Kühles, etwas Berechnendes, etwas Logisches vielleicht auch. Währenddessen würde man beim humanistischen Ethos sagen, das ist die Wärme, die man bei der Demokratie verspürt. Sie führen in diesem Zusammenhang auch die Denkfigur des Konsenses höherer Ordnung ein. Das heißt, es muss marxistisch gesprochen irgendeine Art Überbau geben, der diese Rationalität begründet bzw. ihr eine warme Decke überwirft, oder?
Prof. Nida-Rümelin: Ich will trotzdem noch mal insistieren, Rationalität bedeutet nicht, dass es immer rational zugeht, dass es in der demokratischen Entscheidungs- und Meinungsbildung nur rationale Motive gibt. Das ist keineswegs die These, sondern man muss die besondere Rationalität einer Demokratie erst mal verstehen, um dann zu sehen, wo Gefährdungen liegen, wo ist sie defizitär, wo muss sie weiterentwickelt werden. Das ist die eigentliche Zielsetzung. In dieser Hinsicht bin ich sozusagen institutionell ein Konservativer. Ich plädiere nicht für ein völlig anderes Modell. Dieses gestufte Modell - die repräsentative Demokratie, die rechtsstaatliche Kontrolle, die Gewaltenteilung - all das hat seinen guten Sinn. Es ist nicht immer so entwickelt, wie man sich das vorstellt, aber das ist sehr sinnvoll, weil die Alternativen eine direkte oder eine populistische oder eine charismatische Form von politischer Ordnung wären, wie wir sie jetzt in Ungarn oder in ganz schlimmer Form in den USA erleben. Das ist nicht im Interesse des Staatsvolkes, der Bürgerinnen und Bürger. Also ich will erst mal insistieren, dass die These nicht ist, dass es in der Demokratie durch und durch rational zugeht.
Aber jetzt zu Ihrer zentralen Frage, wie Humanismus und die besondere Rationalität der Demokratie miteinander zusammenhängen. Ja, ich glaube, da gibt es einen sehr engen Zusammenhang. Im Grunde kann man das auch in jeder Verfassung einer entwickelten Demokratie nachlesen, in der deutschen Verfassung besonders deutlich. Ich verteidige den Artikel 1 Absatz 1 - die Würde des Menschen ist unantastbar - gegen seine Verächter und die Spötter, die sagen, ach, das ist ja ungefähr alles und da versteht jeder was anderes darunter. Ja klar, jeder versteht in Nuancen etwas anderes darunter, aber es ist trotzdem der Kern einer normativen Ordnung und das nenne ich Humanismus. Nämlich, dass Menschen als Menschen eine individuelle Würde haben, dass Menschen nicht Instrumente sind, die man für andere Zwecke einsetzt. Ich kann auch nicht sagen, ich bringe jetzt mal einen um, um vier anderen vielleicht etwas Gutes zu tun oder um vielleicht das Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen. Das kommt uns jetzt ganz bizarr vor, wenn man abwägen und sagen würde, na ja gut, also wir opfern ein paar Menschen, um sehr, sehr vielen Hunderten oder Tausenden etwas sehr Gutes zu tun. Warum ist das dann schlecht, die Welt ist doch dann besser? Oder ein extremes Beispiel, so Lehrbuchbeispiel, was man in den Ethikvorlesungen an den Universitäten der Welt bringt: Jemand wird mit schweren Verletzungen - ein Motorradfahrer - in die Klinik eingeliefert. Es ist unsicher, ob die Person durchkommt und die Ärzte sagen, nein, den lassen wir jetzt mal sterben, weil wir genug Leute haben, die dringend auf Spenderorgane warten. Das wäre Totschlag, das ist strafbar, auch wenn man damit vier Menschenleben retten würde. Es ist Totschlag und strafbar und das ist zu Recht so, weil wir niemanden, selbst um des hohen Gutes des Lebens eines anderen, opfern dürfen.
Das ist ein Aspekt dieses humanistischen Kerns, aber wenn man genau hinschaut, ist der Humanismus sehr, sehr reichhaltig. Er beginnt in unserem Kulturkreis in der Antike, Renaissance, Philosophie, deutscher Idealismus, Humanismus im 19. Jahrhundert. Und die Gegner, wenn sie überhandnahmen wie in Gestalt des Nationalsozialismus, Faschismus aber auch zeitgenössische identitären Bewegungen, Stalinismus und so weiter? Das waren immer schlimme Zeiten. Dieser Humanismus ist sehr reichhaltig. Nach meiner Rekonstruktion ist einer der Grundgedanken die Autorschaft. Menschen sind Autorinnen oder Autoren ihres eigenen Lebens, sie tragen für ihre Entscheidungen Verantwortung, sie müssen das gegenüber anderen begründen können, sie müssen sich rechtfertigen können. Und dieser Modus geschieht im wechselseitigen Respekt, in der Anerkennung, in der wechselseitigen Anerkennung als Gleiche und Freie. Das ist nun mal die Grundlage der politischen Moderne und der Demokratie. Und das ist nicht selbstverständlich. Das ist in den rechtlichen Normen eingelassen, aber die kulturelle Praxis hinkt. Stichwort Rassismus, Diskriminierung, Frauenunterdrückung und so weiter.
Chatzoudis: Ihre Figur, dass jeder der Autor seines Lebens ist, das bringt mich auf den nächsten Punkt, nämlich Demokratie und Liberalismus. Liberalismus ist ja ganz zu Beginn Ihres Buches sozusagen der Aufhänger. Die liberale Ordnung ist bedroht, sie erodiert an mehreren Stellen - sowohl als Weltordnung als auch als Gesellschaftsordnung, vor allem im Westen. Wenn man diese Figur weiterdenkt, dass man selbst der Autor seines Lebens ist und dass damit Respekt vor dem Gegenüber verbunden ist, ist dann Respekt ausreichend oder müssten wir vielleicht sogar eher von Solidarität sprechen? Soll heißen: nicht nur Respekt und Anerkennung, sondern auch sich untertützen, sich gegenseitig helfen, füreinander eintreten. Demokratie und Liberalismus paaren sich zudem mit zwei Begrifflichkeiten, die aber vielleicht gegensätzlich sind: Gleichheit und Freiheit. Auch ein großes Thema in Ihrem Buch. Wo liegt da die Balance? Sie haben sich in Ihrem Buch dafür ausgesprochen, im Zweifelsfall eher Freiheit als Gleichheit zu wählen, warum?
Prof. Nida-Rümelin: Ja, das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Zunächst würde ich sagen, wir dürfen den Liberalismus nicht verkürzen auf die Programmatik zum Beispiel liberaler Parteien. Das wäre ein Missverständnis. Sondern wir sollten den Liberalismus als eine besonders politisch und auch sozialreformerisch, auch wirtschaftlich wichtige Bewegung verstehen, die vor allem im 19. Jahrhundert dominant wird. Diese spannt gewissermaßen die normativen Grundlagen auf, an die wir gebunden sind und die wir auf keinen Fall verlassen dürfen. Das heißt, es geht immer nur darum, diesen Liberalismus zu modifizieren, zu ergänzen, aber nicht darum, eine Alternative zu entwickeln. Das klingt jetzt sehr abstrakt, deswegen will ich es etwas konkreter machen: Es gibt seit den 1980er Jahren, zunächst in den USA, dann schwappt es langsam auf Europa über, eine heftige Auseinandersetzung zwischen sogenannten Kommunitaristen und sogenannten Liberalen oder Liberalisten. John Rawls ist der große liberale Theoretiker, Michael Sandel, Michael Walzer oder Amitai Etzioni sind bekannte Vertreter der Kommunitaristen. Den Klügeren unter den Kommunitaristen ist dann im Laufe der Debatte sehr rasch klar geworden, vorneweg Micheal Walzer, aber auch Charles Taylor zum Beispiel, dass der Kommunitarismus eine Korrektur, aber keine Alternative zum Liberalismus ist. Also dass der Kommunitarismus sagt: Vorsicht, die liberalen Ordnungen können sich selbst gefährden, sozusagen in einem Übermaß an Liberalität. Nehmen wir das Beispiel Mobilität, davon spricht Walzer. Wenn jeder alle paar Wochen oder Monate seinen Wohnsitz wechselt, entsteht keine Solidarität unter Nachbarn. Wenn jeder alle paar Jahre seine Familie wechselt durch Scheidung und Wiederverheiratung, entsteht keine familiäre Solidarität und so weiter und so weiter. Diese Mobilitäten kann der Staat in einer liberalen Ordnung nicht begrenzen. Jeder darf dauernd umziehen, wenn er es will oder sie es will. Und man darf sich scheiden lassen und man darf seine Glaubensgemeinschaft wechseln. Aber wenn dieses Niveau an Mobilitäten extrem hoch wird, wie es vor allem in den USA und anderen Ländern der Fall ist, dann gefährdet das den sozialen Zusammenhalt. Und dann würde man sagen, der Kommunitarismus erhebt seine mahnende Stimme: Vorsicht, der Liberalismus zerstört sich am Ende selbst.
Da gibt es interessante Untersuchungen, auch in sehr liberalen oder vermeintlich liberalen Ländern. Die USA sind durch ein extremes Maß an Konformitätsdruck gekennzeichnet, das hat schon Alexis de Tocquevilles beschrieben. Also, die liberalistische Vorbildnation ist sie nicht in jeder Hinsicht, es gibt auch einen starken Konformitätsdruck, Anpassung an Gemeinschaftszugehörigkeiten und so weiter. Aber wenn man Umfragen macht - da gibt es diese berühmte Robert-Belar-Studie, die immer wieder fortgeschrieben wurde -, dann kommt erstaunlicherweise heraus, dass es ist nicht Karriere, nicht das Geld, nicht unbedingt individuelle Selbstverwirklichung sind, die bei den Menschen ganz oben in der Werteskala stehen, sondern Familie, Bindung, Freundschaft. Also Werte, die nicht primär individualistisch sind. Das heißt aber nicht, dass man die liberale Ordnung verlassen kann oder sollte, sondern das heißt lediglich, dass der Liberalismus sich bewusst sein muss, dass - um mal dieses oft zitierte Diktum von Böckenförde aufzugreifen - die liberale Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Sie kann es nicht erzwingen, dass Menschen sich solidarisch verhalten, dass zum Beispiel Menschen sich um ihre pflegebedürftigen Familienangehörigen kümmern und sie nicht vorzeitig in Altenheime oder Pflegeheime abschieben. Das kann niemand erzwingen. Aber wenn die kulturelle Praxis in diese Richtung tendiert, dann geht etwas Wesentliches verloren.
Damit sind wir bei Ihrem Punkt der Solidarität. Ich meine, es ist auch da komplementär. Solidarität, die staatlich organisiert ist, etabliert individuelle soziale Anspruchsrechte, gleiche Rechte, die man als Bürgerin und Bürger hat oder auch als Mensch, der in Deutschland lebt - allerdings abgeschwächt. Das heißt, sie haben dann Rechte, die sie vor Gericht einklagen können. Das ist kein karitativer Akt, sie sind nicht abhängig von der Solidarität ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Jetzt kommt aber das große Aber. Wenn wir die Gesamtheit der solidarischen Praxis an staatliche Institutionen delegieren, erleiden wir nicht nur einen Humanitätsverlust; es wäre überhaupt nicht finanzierbar. Auch ein Wohlfahrtsstaat wie Schweden, extrem ausgebaut im Vergleich zu fast allen anderen Ländern der Welt - abgesehen von den skandinavischen Nachbarländern -, ein solcher Staat setzt auf innerfamiliäre Solidarität, sonst wäre das nicht finanzierbar. Das muss man sehen, das sind sozusagen kommunizierende Röhren. Das heißt, wenn diese innerfamiliäre oder innergemeinschaftliche Bindung - da geht es nicht nur um Familien, es gibt ja auch Freundschaftsbindungen, die in Krisenzeiten helfen -, wenn das erodiert, dann laden wir dem Staat eine Solidaritätsverantwortung auf, die dieser gar nicht tragen kann.
Chatzoudis: Ich spitze einen Gedanken, den Sie gerade formuliert haben, etwas zu. Kann sich die Demokratie zu Tode liberalisieren? Und da möchte ich einen Begriff aufgreifen, den Sie eben genannt haben: die individuelle Selbstverwirklichung. Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen der kollektiven und der individuellen Autonomie. Bleiben wir kurz bei der individuellen Autonomie oder auch bei der Autonomie von Gruppen. Was passiert - und das erleben wir gerade -, wenn beispielsweise Gruppeninteressen, also partikulare Interessen, ich rede jetzt nicht von Wirtschaftsinteressen oder so, sondern von partikularen, kulturellen Interessen wie beispielsweise Gender, Sexualität, Alter, Hautfarbe, Herkunft und so weiter, wenn diese plötzlich im Diskurs sehr hoch als die Ziele angesetzt werden, die man in einer Demokratie verfolgen sollte, damit die Menschen aufgrund von historischen Ungerechtigkeiten in ihr Recht kommen? Gibt es da eine Grenze von partikularen Interessen in Demokratien?
Prof. Nida-Rümelin: Ja, wobei ich nicht sicher bin, ob da der Ausdruck genau passt. Aber das Phänomen, das Sie ansprechen, ist ein gegenwärtig besonders offensichtliches, aber das gab es auch schon in der Vergangenheit, und ich glaube es ist wichtig, das genau zu analysieren. Ist es so, dass der liberale und soziale Rechtsstaat, die Demokratie in gewissem Sinne eine Art überwölbende Struktur über alle Gemeinschaften hinweg etabliert? Um das mal nicht so abstrakt zu formulieren: Nehmen Sie die deutsche Geschichte. In den Geschichtsbüchern und Lehrbüchern in den Schulen steht: 1871 - Gründung des deutschen Nationalstaates. Bismarck-Reich. Das war noch keine Demokratie - Dreiklassenwahlrecht und so weiter. Das ist eigentlich ganz falsch. Es war eine Art preußische Hegemonie - sage ich als Bayer. Nach der Niederlage von Königgrätz 1866, wird dieser Staat, horribile dictu, damals von den Zeitgenossen nicht als Nationalstaat empfunden, weil es eine kleindeutsche Lösung war. Es ging um die Frage, wie ist das mit Österreich nach dem Zusammenbruch des Habsburgimperiums. Es war streng genommen kein Nationalstaat, so wie auch Großbritannien heute keine Nationalstaat ist, wie wir demnächst wahrscheinlich noch sehr deutlich sehen werden. Die haben interessanterweise drei Fußballnationalmannschaften. Es war eine Zusammenfassung unterschiedlicher Regionen unter eine institutionelle Ordnung, die stark von Preußen dominiert war, so könnte man es vielleicht sagen, und wird dann zum Nationalstaat in zwei Schüben, nämlich einmal durch die Reichsversicherungsordnung von 1911, in der soziale Anspruchsrechte von Konservativen ins Spiel gebracht werden, um die Auswüchse der liberalen Wirtschaftsordnung, die Kapitalakkumulation und die Verelendung von breiten Kreisen der Bevölkerung zu stoppen und damit auch die Sozialdemokratie in Grenzen zu halten, die sie zur gleichen Zeit zwölf Jahre ins Gefängnis stecken. Das war sozusagen eine Art Doppelstrategie, die dazu führt, dass die Bürgerinnen und Bürger auf einmal eine Identifikation mit diesem Staat hatten. Sie waren auf einmal nicht primär Bayern oder Preußen oder sonst was, sondern Teil dieses deutschen Reiches. Und der zweite traurige Schub ist dann der Erste Weltkrieg, der eine Art Bindewirkung, jedenfalls in den ersten Jahren, entfaltet, und die Leute sagen, ja, jetzt sind wir solidarisch mit dieser Nation.
Dieses Phänomen, das muss man im Auge behalten, das ist der Vorteil und die Gefahr des Nationalstaates. Der Vorteil ist, der Nationalstaat, sowohl der demokratische als auch der undemokratische, überwindet zum Beispiel Glaubensbindungen, regionale Bindungen oder andere kollektive Identitäten. Und das ist sehr viel ausgeprägter in republikanisch geprägten Staatsgebilden wie zum Beispiel Frankreich, das sich sehr stark als republikanisch versteht. Frankreich ist ein überwiegend katholischer Staat, der aber dennoch laizistisch ist. Die Gesellschaft ist überwiegend katholisch und trotzdem ist das ein laizistischer Staat, und beides geht zusammen. Ich kann gläubiger Katholik sein und Laizist, nämlich der Meinung sein, dass der Staat nicht von der katholischen Kirche beeinflusst werden soll, anders als zum Beispiel Italien oder Polen oder zum Teil auch Deutschland. Diesen Punkt muss man im Auge behalten.
Nun sind wir schon sehr nahe an dem Kern Ihrer Fragestellung. Wenn jetzt diese kollektiven Identitäten zum Beispiel im Geiste der sogenannten Identitätspolitik, wo die Leute geradezu ermuntert werden zu sagen: Ich bin nicht primär US-Staatsbürger bzw. US-Staatsbürgerin, sondern ich bin primär Afro-American oder schwul, zugehörig zur Schwulengemeinschaft oder was auch immer. Das ist eigentlich nicht unbedingt individualistisch, sondern das ist eher kollektivistisch. Als ich 1991 meine erste Gastprofessur in den USA hatte, da war ich bass erstaunt, dass ich eine Liste vorgelegt bekam, auf der ich ankreuzen musste, zu welcher Gemeinschaft ich gehöre. Ich habe meine nicht gefunden. Ich bin kein Hispanic, was bin ich denn eigentlich? Richtig wäre Caucasian gewesen. Wenn man eine Großmutter aus Mexiko hat, dann kann man auch Hispanic ankreuzen. Das wirkt sich auf die Campuswahlen aus, dieses Ankreuzen. Das heißt, da werden in der Campusdemokratie oder wie man das nennen soll Gemeinschaften repräsentiert. Hochproblematisch, weil es gibt ja Menschen, die sagen: Ja, Moment, erst einmal gehöre ich mehreren Gemeinschaften an und zweitens identifiziere ich mich gar nicht mit deren Interessen. Und das ist ein wichtiger Punkt. Ich meine, die politische Dynamik ist so: Zunächst tritt die Identitätspolitik eher spielerisch als Verteidigung oder manchmal auch militant auf, aber eher als Verteidigung von Minderheiten, von Unterdrückten. Die sagen: So, jetzt sollen wir doch Selbstwertgefühle fühlen, wir sind doch eine Gemeinschaft, wir stellen uns gegen die Dominanz der weißen protestantischen Mehrheit und so weiter. Aber das kann sehr rasch umschlagen und diesen Umschlag erleben wir gegenwärtig. Nämlich im Grunde kann man sagen, dass, was Trump betreibt, das ist Identitätspolitik von rechts. Trump sagt: Ja, dann organisieren wir diese Gemeinschaft, nämlich die weiße Mittelschicht oder untere Mittelschicht oder auch proletarische, die, die sich von den Eliten der Küsten und von der Campuskultur in den amerikanischen Colleges abgehängt fühlen. Das kann sehr rasch umschlagen und diesen Umschlag erleben wir gegenwärtig. Es gibt ein sehr schönes Buch dazu übrigens, das vor Jahren erschienen ist, was kaum jemand so richtig wahrgenommen hat, vom Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen, indisch-stämmig, der sehr genau analysiert hat, wie gefährlich die Identitätspolitik ist und der zehn Jahre zu früh damit gekommen ist.
Chatzoudis: Das ist dieses Gegenbuch, gegen Huntington, glaube ich. Die Identitätsfalle, so heißt es.
Prof. Nida-Rümelin: Genau.
Chatzoudis: Meine letzte Frage, weil uns die Zeit davonläuft: Ein anderes gegenwärtiges Phänomen, das wir erleben, das wir beobachten, das wir nachlesen können, ist das Thema Corona. Einige sprechen von einer Spaltung des Landes in diejenigen, die daran glauben und das Virus für eine große Gefahr halten und auch die Maßnahmen für richtig halten und die, die nicht daran glauben und die Maßnahmen für völlig überzogen halten. Man kann es am Ende auf zwei Kategorien zurückführen, die aufeinanderprallen, nämlich Sicherheit und Freiheit. Oder philosophisch ausgedrückt: Hier prallt Hobbes auf Locke. Ist dieser Gegensatz, also Sicherheit auf der einen Seite gegen Freiheit auf der anderen Seite, ist er auch eine der möglichen Bruchstellen in einer demokratischen Ordnung?
Prof. Nida-Rümelin: Ja. Es ist eine wichtige Botschaft, die auch in dem Buch ausgeführt wird. Wer eine freiheitliche, und ich füge dann immer hinzu, und soziale, also nicht nur freiheitliche Demokratie befürwortet, der muss damit leben, dass wir damit den Menschen eine individuelle Verantwortung zutrauen und zumuten, die im Zweifelsfall auch negative Konsequenzen haben kann. Nehmen wir ein ganz banales Beispiel. Wir haben viele Alkoholtote, also alkoholbedingte Tote pro Jahr, das geht in die Hunderttausende, je nachdem, wie man da rechnet, welche Begleiterscheinungen man dazu rechnet. Also, der Alkoholabusus oder der übertriebene Alkoholgenuss führt zu vielen Todesfällen. Das heißt, trotzdem kommt, gottlob, in Deutschland niemand auf die Idee, Alkoholgenuss zu unterbinden oder auch zu reglementieren. Da gibt es viele Beispiele dieser Art, die Leute treiben keinen Sport, sie ernähren sich falsch und so weiter. Wir sind alle der Meinung, nein, der Staat hat sich da rauszuhalten, der kann Empfehlungen geben, der kann die Lebensmittelkontrolle verstärken, er kann die Industrie zum Beispiel dazu bringen, dass die nicht zu viel Zucker in die Kindernahrung geben und so weiter, aber am Ende entscheidet die einzelne Person. Dabei sind wir übrigens nicht sehr kohärent, der Staat unterbindet manchmal Dinge im Namen der Volksgesundheit. Banales Beispiel ist die Anschnallpflicht. Hier wird nicht zum Schutz anderer, sondern im Wesentlichen zum Selbstschutz etwas vorgeschrieben.
Chatzoudis: Drogen?
Prof. Nida-Rümelin: Ja, wobei Drogenkonsum erlaubt ist, Drogenhandel aber nicht, das ist auch so eine Ambivalenz. Wir haben eine ganze Reihe von Ambivalenzen, aber man kann durchaus sagen: Im Prinzip gilt diese Regel. In Deutschland ist es sogar nicht mehr strafbar, einen Suizidversuch zu unternehmen. Wir bestrafen konsequenterweise die extremste Form von Selbstschädigung, oder den Versuch der Selbstschädigung - denn wenn er erfolgreich ist, kann man ja niemanden mehr bestrafen - nicht mehr wie das früher der Fall war. Also können wir auch schwächere Formen von Selbstschädigung nicht sanktionieren. Damit ist aber vereinbar, dass der Schutz anderer Personen staatlich garantiert wird oder jedenfalls staatlich angestrebt wird. Dazu dienen Verkehrsregeln, dazu dient auch das Verbot von Tätlichkeiten und so weiter.
So, und jetzt kommen wir in den Bereich der Infektionskrankheiten aufs Glatteis. Manche wollen das nicht gerne hören, aber die saisonalen Grippen ziehen viele Todesfälle nach sich. In den Jahren 2017/18: 25.100 Tote gemessen vom RKI nach Exzess-Mortalität, also Übersterblichkeit. Aber das ist nicht ein einsamer Ausrutscher, sondern wir hatten andere Jahre, da waren es 20.000, 18.000, in Italien gelegentlich mal über 30.000 - immer gemessen an Exzess-Mortalität, nicht an den registrierten Toten in den Kliniken. Wir waren bislang der Meinung, dass einzige, was man da tun kann: Empfehlungen abgeben, wenn man gefährdet oder älter ist, sich impfen lassen. Punkt. Mehr haben wir nicht getan. Niemand, der mit Grippe an seinen Arbeitsplatz gekommen ist, wurde deswegen bestraft oder ins Gefängnis gesperrt, natürlich nicht. Und jetzt haben wir eine Herausforderung durch Covid-19, die, jedenfalls anfangs, als wesentlich gefährlicher eingeschätzt wurde - im Faktor 10. Das RKI und die WHO kamen zum Ergebnis, die Letalität liege bei drei, vier, fünf, sechs, sieben Prozent. Unterdessen gehen die Schätzungen immer weiter zurück, aber es sieht so aus, dass die Letalität immer noch deutlich über der einer saisonalen Grippe liegt, aber nicht mehr dramatisch drüber, wie das ursprünglich geschätzt wurde. Jetzt ist es schon legitim darüber nachzudenken, was an Eingriffen in die individuelle Freiheit gerechtfertigt ist und was nicht. Wir haben massive Eingriffe erlebt, den sogenannten Shutdown, der betraf auch die Freiheit der Berufsausübung, zum Teil wurden wirtschaftliche Existenzen vernichtet, vor allem bei den Selbstständigen. International führt der Lockdown zu viel dramatischeren Folgen, die sehr wohl abgewogen werden müssen. Also ich war immer skeptisch, ob man in Indien oder in Afrika mit ähnlichen Maßnahmen vorgehen sollte, Lockdown-Maßnahmen wie in Europa, denn die Tagelöhner, die haben keine Sicherheit, die kriegen kein Arbeitslosengeld und nichts. Und die sind dann möglicherweise am Ende wirklich vom Hunger bedroht. Das zeigt sich ja jetzt in Afrika. Ganz niedrige Todeszahlen in Afrika, weil der Altersaufbau anders ist. Das hätte man eigentlich wissen müssen, wenn im subsaharischen Afrika drei Prozent über 65 Jahre alt sind. Das natürlich Folgen für die Statistik. Man muss sich auch mal die Statistiken anschauen.
Ich sage jetzt mal bewusst, wir müssen sehr aufpassen, dass wir den Diskurs nicht erneut an die Wand fahren, wie wir das mal 2015/16 in der Migrationskrise gemacht haben: zwei Drittel Rechtgläubige gegen ein Drittel Unbelehrbare. Wir wiederholen dieses Muster gegenwärtig und das ist ganz, ganz schlecht. Es gibt sehr differenzierte Stellungnahmen. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die nicht selbst denken, sondern nur nachplappern, was sie hören und manchmal auch Unfug nachplappern - auf beiden Seiten. Ich habe immer die Maßnahmen verteidigt. Es war auch wegen der Situation damals unumgänglich, Maßnahmen zu ergreifen. Die Hinweise verdichten sich, dass der Lockdown in Italien, in Deutschland, in Frankreich und in England nicht so effektiv war, wie man sich das vielleicht gewünscht hat. Möglicherweise war der Lockdown in Deutschland sogar nicht nötig. Was nötig war, war das Großveranstaltungsverbot und wahrscheinlich auch die Schulschließungen. Also da sind wir noch in einer Suchbewegung und ich mache da niemandem leichtfertig Vorwürfe, aber es muss möglich sein, diese Dinge zu debattieren. Das hat mich am meisten auf die Palme gebracht, als unsere sonst sehr besonnene Bundeskanzlerin sagte, für Diskussionen ist es zu früh. Nein, ist es nie. Das macht die Demokratie aus, dass wir Diskussionen führen, sonst sind wir nicht in einer Demokratie, sonst sind wir in einer Diktatur.
Chatzoudis: Herr Professor Julian Nida-Rümelin, das lasse ich gerne so stehen, das ist ein gutes Schlusswort. Ich danke Ihnen wirklich sehr für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin alle Gute.
Prof. Nida-Rümelin: Danke Ihnen.
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Kommentar
Aber zum Text: ich stimme zu, dass Identitätspolitik dramatische Auswirkungen haben kann. Momentan wird versucht in Brandenburg eine 50:50 Frauen/Männer-Aufstellung bei den Parteien durchzupeitschen - und dies mit Hilfe der Grünen und Linken.
So weit sind wir also schon: die Demokratie der freien Wahl soll ausgehebelt werden, um brutale Identitätspolitik zu machen. Was ist das Nächste: Quoten für Migranten, Behinderte, Judokämpfer? Oder am besten gleich die Wiedereinführung des Ständestaates? Vielleicht auch nur ein "Nationale Front" wie in der DDR?
Und das Schlimmste? Die CDU hat darauf verzichtet gegen diesen Wahnsinn zu klagen, weil die AfD es getan hat. Rechte als letzte Verteidiger der Demokratie. Wer hätte gedacht, dass es einmal so weit kommt?