Zu den Begriffen unter aktuellem Inflationsverdacht gehört in gesellschaftlichen Debatten unter anderen der Begriff "Populismus". Dieser Begriff scheint inzwischen von allen gegen alle und alles verwendet zu werden. Einigkeit scheint unter allen Kombatanten lediglich in einem Punkt zu bestehen: Wer Populist ist, ist nicht gut, manchmal sogar gefährlich. Den politischen Gegner des Populismus zu bezichtigen, bedeutet den Gegner abzuwerten und gesellschaftlich auszugrenzen. Vielleicht sogar aus guten Gründen? Ist Populismus heute so eindeutig konnotiert, dass er vor allem als Gefahr für Demokratie und Parlamentarismus wahrgenommen wird? Und wer bestimmt, wann jemand Populist ist? Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Philip Manow von der Universität Bremen hat sich das aktuelle Verständnis von Populismus noch einmal genau angeschaut. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Der Populismusbegriff ist auch immer ein politischer Kampfbegriff"
L.I.S.A.: Herr Professor Manow, Sie forschen zu Demokratie und Parlamentarismus. Die Demokratien im Westen sehen sich seit einigen Jahren vor einer neuen Herausforderung, die als Populismus bezeichnet und als Gefahr eingeschätzt wird. Zurecht?
Prof. Manow: Wenn es auf diese Frage eine einfache Antwort gäbe, hätten wir wohl die langanhaltende Debatte über den Populismus nicht. Venezuela scheint ein Beispiel, in dem ein linkspopulistisches Regime sich tatsächlich vor unseren Augen in eine Diktatur verwandelt bzw. wahrscheinlich schon verwandelt hat. Viele beobachten den Umbau der polnischen Justiz, den die PiS-Partei betreibt, mit großer Sorge, oder auch den Umgang von Orbans FIDESZ-Partei mit den Medien in Ungarn. Sie sehen das als veritable Bedrohung der Demokratie. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass die rechtspopulistischen Parteien in Polen und Ungarn ihre Länder tatsächlich in totalitäre Systeme umformen sollten oder auch nur wollten. Oder dass sie damit vor ihrer eigenen Bevölkerung durchkämen, sollten sie das wirklich anstreben, was ich bezweifle. Zumindest entsprachen die ungarischen Parlamentswahlen von letztem Sonntag internationalen Standards, wie die OSZE-Wahlbeobachter bestätigten.
Man sieht daran, dass der Populismusbegriff auch immer ein politischer Kampfbegriff ist, was seine Verwendung als wissenschaftlicher Analysebegriff problematisch macht. Aber natürlich ist Demokratie eine verletzliche Herrschaftsform, und Versuche, an den Regeln zu drehen, werden wir wohl auch in Zukunft immer wieder und an vielen Orten beobachten können. Momentan scheint es mir aber übertrieben, von einer wirklichen Gefährdung der Demokratie durch den Populismus zu sprechen. Es gibt ja auch die plausible Argumentation, im Gegenteil von einer populistischen Rettung der Demokratie zu sprechen, weil die Populisten eine zunehmend autistisch gewordene Elite zwingen, lang ignorierte Probleme der Bevölkerung endlich wahrzunehmen. Man kann sich ja ausgiebig über Trump aufregen – aber dass er von einer Wählerschaft getragen wurde, die sich von Washington über Jahre vernachlässigt fühlte und gute Gründe für dieses Gefühl der Vernachlässigung hatte, lässt sich wohl schwer bezweifeln.