Die politischen Krisen in mehreren lateinamerikanischen Staaten dauern weiter an. Konzentrierte sich vor einigen Monaten noch die Berichterstattung auf die Vorgänge in Venezuela, überschlagen sich inzwischen die Ereignisse. In mehreren Ländern des Kontinents gibt es Unruhen, Regierungen sind gestürzt, die gegenwärtige Situation bleibt unklar, die weitere Entwicklung scheint nicht vorhersehbar. Eine Frage sticht dabei besonders hervor: Wie erklärt sich die Koninzidenz der Ereignisse in Lateinamerika? Warum kommt es relativ zeitgleich zu den Unruhen in den teilweise doch sehr unterschiedlichen Staaten des Kontinents? Wir haben bereits in der vergangenen Woche dem Historiker Prof. Dr. Stefan Rinke dazu Fragen gestellt. Auf der Suche nach weiteren Einschätzungen haben wir auf unsere Fragen nun Antworten des Philosophen Prof. Dr. Peter Trawny erhalten, der Lateinamerika aus persönlichen Sicht kennt und gegenüber Erklärungsversuchen aus Europa skeptisch ist.
"Durchdringung von ökonomischen und postkolonial-hierarchischen Unterschieden"
L.I.S.A.: Herr Professor Trawny, Sie haben eine persönliche Beziehung zu Lateinamerika und kennen vor allem Brasilien gut. Nun scheint aktuell der gesamte Kontinent von Unruhen und Krisen erschüttert worden zu sein. In Chile protestieren die Menschen gegen Präsident Piñera, in Bolivien ist die Regierung Morales gestürzt, in Brasilien werden nach der Freilassung des früheren Präsidenten Lula größere Konflikte prognostiziert, Venezuela steht bereits am Rande eines Bürgerkriegs - um nur einige Beispiele zu nennen. So unterschiedlich die einzelnen nationalen Vorgänge möglicherweise sind, ist doch die relative Gleichzeitigkeit der Ereignisse auffallend. Gibt es Ihrer Meinung nach eine übergeordnete bzw. gemeinsame Ursache für die gegenwärtige Koinzidenz?
Prof. Trawny: Ein großer Unterschied zwischen Europa und Lateinamerika besteht meiner Meinung nach darin, dass wir es dort mit post- oder dekolonialen Situationen von verschiedenen Gesellschaften zu tun haben. Auf den ersten Blick scheint die Kolonialzeit schon sehr lang zurückzuliegen, doch dieser Blick täuscht. In Brasilien z.B. wurde die Sklaverei offiziell erst 1888 abgeschafft. Doch die Kolonialzeit hat überall eine zwar divergierende, aber in gewisser Hinsicht vergleichbare Situation geschaffen: eine sozial viel tiefer differenzierte Gesellschaft als sie jemals in Europa existiert hat. Diese Differenzierung betrifft nicht nur das Ökonomische - Armut ist ein greifbareres, realeres Phänomen in Lateinamerika als in Europa -, sondern auch den Umgang mit Privilegien. Die ehemaligen Kolonisatoren (portugiesischer oder spanischer Herkunft) geben zwar vor, sich mit den indigenen oder, wie in Brasilien, afrikanischen Anteilen der Gesellschaft weitestgehend vermischt zu haben, doch das scheint doch eher nur eine Idee und keine Wirklichkeit zu sein. Ein gewisser Alltagsrassismus ist übrigens gewöhnlich. Sobald sich eine breitere Mittelschicht gebildet hat, fährt sie die Ellenbogen aus und verteidigt ihre Vorteile in jeder Hinsicht. Diese Durchdringung von ökonomischen und postkolonial-hierarchischen Unterschieden prägt meines Erachtens die politische Lage aller lateinamerikanischen Länder.
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