Bis zum Sommer 2022 gehen wir auf Spurensuche an den Grabtextilien aus dem Sarg des Trierer Bischofs Paulinus, der im Jahr 358 unter kaiserlicher Verbannung in der Region Zentralanatoliens verstarb und kurze Zeit später von seinen christlichen Anhängern in seine heutige Grabstätte, die Krypta von St. Paulin in Trier, überführt wurde.
Ein Phantombild in „Mehlpapp“?
Bisher haben wir vor allem von den Seidenfragmenten berichtet, welche verwebt zu kostbaren Damasten und Taquetés die große Mehrheit der Textilien aus dem Paulinus-Grab ausmachen. Schon bald fanden wir jedoch Hinweise auf ein uns neues Gewebe. Es zeigte sich vorerst nur als Abdruck in einer weißen Substanz – ein Phantombild, das sofort unser Interesse weckte! Die weiße Substanz haftet vor allem an den Seidentaqueté-Fragmenten – zum Beispiel an unserem kleinen Hund, den wir in Blog 2 (Bild 15) vorgestellt hatten. In einem Holz-Glas-Rahmen mit einer im 19. Jahrhundert zusammengestellten Auswahl der Paulinus-Textilien lesen wir von „Mehlpapp-Spuren“ an genau diesem Taqueté (Bild 1). In diesen Spuren ist also der negative Abdruck – das Phantom-Bild – eines noch unbekannten Textils erhalten (Bild 2).
So ermittelten wir in alle Richtungen: Wieso ist nur ein Abdruck erhalten? Könnten sich unter all den Seidenfunden auch Textilien aus pflanzlichen, also cellulosehaltigen, Fasern erhalten haben? Warum das erstaunlich wäre, was es mit Cellulosefasern auf sich hat und was hinter dem Begriff Byssus steckt, darum geht es in diesem Blogeintrag.
Vorstellung der Verdächtigen
Im Laufe der Ermittlungen gesellten sich zu unserem (Haupt-)verdächtigen Phantombild recht schnell vier weitere Verdächtige mit auffallenden Ähnlichkeiten. Hier eine Übersicht:
- N° 1: Unser hauptverdächtiges Phantom: Insbesondere an den in Taqueté gewebten Seidenfragmenten haftet eine weiße Verkrustung („Mehlpapp“), in welcher der Abdruck eines mysteriösen Textils zu erkennen ist (Bild 2).
- N° 2: Ein helles Textilfragment im Holz-Glas-Rahmen direkt unterhalb des Seidentaquetés mit Spuren grünlicher Verfärbungen und der Beschriftung „weißer Byssus“ (Bild 3).
- N° 3: Ein ebenfalls aus dem Paulinusgrab geborgenes Textilfragment im Bistumsarchiv Trier, das große Ähnlichkeit mit dem „weißem Byssus“ im Holz-Glas-Rahmen aufweist und ebenfalls verdächtige grüne Spuren trägt (Bild 4).
- N° 4: Winzige Textilfragmente aus unseren Paketen, darunter ein 0,6 x 1,1 cm kleines Exemplar, das sich u.a. durch das Fehlen des für Seide typischen Glanzes verdächtig macht (Bild 5).
- N° 5: Außerdem vermuten wir auch bei den erhaltenen Bronzebeschlägen der Paulinus-Lade eine Komplizenschaft (Bild 6).
Allen Verdächtigen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie in ganz wesentlichen Merkmalen übereinstimmen und sich damit von unseren bislang bekannten Seidengeweben aus dem Paulinusgrab unterscheiden. Liegen uns also die Puzzle-Teile eines einzigen Gewebes vor?
- Alle textilen Verdächtigen weisen eine Fadendrehung in S-Richtung auf. Die Fäden der bisherigen Seidengewebe sind hingegen entweder ungedreht oder in Z-Richtung gedreht (siehe dazu auch das Erklärvideo in unserem Blog N° 4.
- Bei den Verdächtigen N°1-4 liegt eine Leinwandbindung mit gleicher Webdichte vor, die ebenfalls unter den Seidenfragmenten bislang nicht auftaucht.
- Allen Verdächtigen fehlt der für Seiden typische Faserglanz. Liegt also ein anderes Fasermaterial vor?
- Stattdessen sind teilweise grünliche Verfärbungen erkennbar, die an den Seidenfragmenten bislang nicht beobachtet wurden.
Verdacht: pflanzliches Fasermaterial!
Hinzu kommt, dass von dieser Gewebeart nur wenige kleine Fragmente bzw. auch winzige Spuren erhalten sind – der Rest hat also die Jahrtausende nicht überdauert. Warum? Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um ein Fasermaterial handelt, das ganz anders altert als Seide (siehe dazu unseren Blog N°2). Ein pflanzliches Material aus Cellulose könnte also beispielsweise vorliegen. Cellulose ist der Gerüstbaustoff der Pflanzen. Pflanzenfasern kann man in Pflanzenhaare, Bast- und Stängelfasern, und Hartfasern unterteilen (Bild 7). Sie unterscheiden sich in ihrem Gehalt an Cellulose, Pektin, Lignin und anderen Begleitstoffen.
Wie altert Cellulose?
Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Abbauprozesse von Cellulose – also auch Textilien aus pflanzlichen Fasern – werden von folgenden Faktoren beeinflusst:
- Licht: Unter Lichteinwirkung (sichtbares, wie auch UV-Licht) nimmt der Anteil an kristallinen Bereichen in den Fasern zu, sodass die Cellulose steif und brüchig wird.
- pH-Wert: Cellulose ist besonders empfindlich gegenüber Säuren. Im archäologischen Kontext bleiben Cellulosefasern daher in einem sauren Milieu meist nur schlecht erhalten. Anders als die Proteinfasern, die dieses bevorzugen, aber wiederum in einem alkalischen Milieu schneller abgebaut werden.
- Kristalline Faserstruktur: Je höher der kristalline Anteil innerhalb der Cellulosefasern, umso widerstandsfähiger sind diese gegenüber mikrobiellen Angriffen. Daher sind Baststängelfasern wie Flachs und Hanf in der Regel stabiler als beispielsweise die Samenfasern der Baumwolle, weil diese strukturell anders aufgebaut ist.
- Klimatische Bedingungen: Ein archäologischer Fundkontext, in dem Cellulose- und Proteinfasern gleichermaßen erhalten sind, ist meist nur in besonderen Liegemilieus, wie z.B. Wüstenregionen, Permafrost oder unter Luftabschluss anzutreffen.
Mikroskopische Spurensuche
Um dem Fasermaterial unserer Verdächtigen auf die Spur zu kommen, wurden mit Ausnahme des „weißen Byssus“ im Holz-Glas-Rahmen alle Textilfunde beprobt und zerstörungsfrei mittels Rasterelektronenmikroskopie (REM) untersucht. Dabei konnten fast alle Faserproben als Baststängelfasern identifiziert werden, wobei es sich vermutlich um Flachs oder Hanf handelt. Nur unser hauptverdächtiges Phantom, der Abdruck innerhalb der weißen Verkrustung, wies keine Mikrostrukturen des ursprünglichen Fasermaterials mehr auf.
Der Herzog-Test
Da Hanf und Flachs morphologisch nur sehr schwer zu unterscheiden sind, hilft uns bei der weiteren Bestimmung der sogenannte Herzog-Test. Die Funktionsweise des Herzogs-Tests bzw. der Polarisationsmikroskopie beruht darauf, dass fast alle Fasern aufgrund ihres kristallinen Aufbaus optisch bestimmte Vorzugsrichtungen aufweisen, entlang derer sich spezifische optische Dichten (Brechungsindices) angeben lassen. Jede doppeltbrechende Faser kann unter dem Mikroskop so ausgerichtet werden, dass Interferenzfarben sichtbar werden. Mit dem Herzog-Test wird die unterschiedliche Abfolge von Interferenzfarben unter Drehung der Faser als Bestimmungsmerkmal eingesetzt:
- Zum Beispiel Flachs, Nessel und Ramie zeigen in horizontal liegender Position die Interferenzfarbe Blau, bei vertikaler Ausrichtung dagegen Rot/Orange.
- Bei Hanf und Jute verhält es sich genau umgekehrt: Horizontal liegend weisen sie eine rötliche Färbung auf, in vertikaler Position erscheinen sie blau.
Die unterschiedlichen Farben entstehen dadurch, dass die Sekundärwände bei Flachs und Hanf unterschiedlich ausgerichtet sind (Bilder 9 und 10).
Von dem Textilfragment aus dem Trierer Bistumsarchiv (N°3), welches vermutlich auch dem „weißen Byssus“ aus dem Holz-Glas-Rahmen (N°2) entspricht, sowie von dem Fragment aus Paket 32 (N°4) wurden Fasern für den Herzog-Test entnommen. Dabei konnte bestätigt werden, dass es sich jeweils um Flachs handelt – auch wenn die Bestimmung aufgrund der Alterung der Fasern nicht mehr so einfach wie bei rezenten Fasern war.
„Weißer Byssus“ und „Gelblicher Byssus“ – ein etymologischer Krimi
Unter den um 1883 gerahmten Textilfragmenten befindet sich nicht nur ein mit „Weißer Byssus“ bezeichnetes Gewebe, sondern auch Überreste, die als „Gelblicher Byssus“ beschriftet sind. Hier zeigt sich bereits die offensichtliche Doppelbedeutung des Begriffs Byssus und damit einhergehende Verwechslungen (Bild 13).
Bis heute findet man in der Fachliteratur, Enzyklopädien und Wörterbüchern missverständliche Definitionen und große Verwirrung, wenn es um Byssus geht. Die Geschichte, wie es zu der Verwechslung kam, ist eine lange, und etwas komplizierte. Das Einfachste zuerst: Echte Muschelseide wird aus dem Faserbart der Meeresmuschel Pina Nobilis gewonnen. Der zoologische Name des Faserbarts der Edlen Steckmuschel ist tatsächlich auch Byssus.
Nun wird es aber schwieriger: Der Begriff Byssus ist seit der Antike als Bezeichnung für bestimmte Textilien schriftlich überliefert. Gemeint war damit aber nicht Muschelseide – auch wenn es Textilien aus Muschelseide auch schon in der Antike gab – sondern sehr feine Leinenstoffe, wie beispielsweise die sogenannten Königsleinen im pharaonischen Ägypten. Spätere Umdeutungen und Übersetzungsfehler führten dazu, dass Byssus auch als Seide, Baumwolle oder eben Muschelseide gelesen wurde. Diese Unstimmigkeiten basieren auf einer sehr langen, spannenden Geschichte, in der sowohl Aristoteles als auch die Bibel eine wichtige Rolle spielen – und schließlich auch viele rätselnde ForscherInnen, die sich über alle Sprachgrenzen hinweg mit den Übersetzungsproblemen auseinandersetzten. Einen herausragenden Beitrag zum Thema Muschelseide leistet die Forscherin Dr. Felicitas Maeder am Naturhistorischen Museum Basel, die in einer einzigartigen und außerordentlich umfangreichen Online-Datenbank nicht nur ein Inventar aller noch existierenden Objekte aus Muschelseide erstellt, sondern auch die gesamte Forschungs- und Handwerksgeschichte zu Muschelseide aus unterschiedlichsten Perspektiven aufzeigt und belegt.
Im Fall der als Byssus bezeichneten Textilien aus dem Paulinusgrab war mit „Weißer Byssus“ vermutlich einen Leinenstoff gemeint (den wir nun auch nachweisen konnten). Bei dem als „Gelblicher Byssus“ bezeichneten Überresten wurde im 19. Jahrhundert möglicherweise Muschelseide vermutet. Allerdings handelt es sich tatsächlich um die Seide des Maulbeerspinners, wie wir sie bei den meisten Textilien aus dem Paulinusgrab bislang finden konnten.
Offene Fragen
Unser Kriminalfall zum Byssus im Grab des Paulinus ist noch nicht endgültig geklärt. Sicher ist nun, dass sich unter die Paulinusseiden auch Textilien aus Cellulosefasern eingeschlichen haben. Warum sind aber sowohl Protein- als auch Cellulosefasern im Grab erhalten geblieben, obwohl kein Wüstenklima, Dauerfrostboden oder Luftabschluss als Liegemilieu nachweisbar sind? Könnten die Textilreste an den Bronze-Sargbeschlägen hier eine mögliche Aufklärung bieten? Bronze wirkt durch den hohen Kupferanteil antibakteriell im Kontakt mit organischen Materialien in archäologischem Kontext. Waren die Leinenstoffe (bzw. der EINE Leinenstoff?) also vielleicht gar nicht in der Holzlade, sondern vielmehr deren Verhüllung – wie es auch für den Taqueté mit „Mehlpapp“ schon im 19. Jh. vermutet wurde (siehe Bild 1)? Der mysteriöse „weiße Byssus“ im Holz-Glas-Rahmen sowie das Fragment aus dem Trierer Bistumsarchiv weisen grünliche Korrosionsspuren auf – vielleicht durch den Kontakt mit den Bronzebeschlägen der Holzlade, an denen sich ebenfalls Fadenreste eines Leinenstoffes erhalten haben? Und worum handelt es sich eigentlich bei der hellen (Mehlpapp-)Substanz? Ein antiker Klebstoff? Es bleibt spannend!
Für die Unterstützung bei der rasterelektronenmikroskopischen Untersuchung danken wir Frau Dr. Anne Sicken aus den Naturwissenschaften am CICS der TH Köln!
Im nächsten Blogbeitrag beschäftigen wir uns mit Reliquien und der Frage, wie wir als RestauratorInnen mit Objekten von religiös-immateriellem Wert umgehen sollen.
Bis dahin alles Gute!