L.I.S.A.: Welches Verständnis hatte Otto Dann von den Konzepten Nation und Nationalismus?
Prof. Hroch: Was zu diesem Thema Otto schrieb, kann jeder lesen und es wäre sinnlos, ihn hier zu zitieren. Interessanter wäre es, wenn man heute den Inhalt unserer privaten Überlegungen und Auseinandersetzungen rekonstruieren könnte. Es ist allerdings nach so vielen Jahren schon unmöglich.
Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit es zum unmittelbaren persönlichen Meinungsaustausch über das Konzept der Nation kam. Vielleicht war es eben im Zusammenhang mit dem schon erwähnten „Protonationalismus“. Wir waren uns gewissermaßen einig, dass die Nation eine objektiv existierende Entität war – wenigstens seit dem 18. Jahrhundert. In modischen Termini ausgedruckt, waren wir also „Essentialisten“. Wir waren auch fast gleicher Meinung in der kritischen Distanz zu Ernest Gellner und seinem Konzept der Nation - Otto war in dieser Hinsicht kritischer als ich.
Unsere Meinungen gingen auseinander in der Frage nach den bestimmenden Koordinaten der modernen Nation. Anders als ich hat Otto immer das politische Selbstverständnis, das politische Programm und die Staatlichkeit als notwendige Attribute der Nation hervorgehoben, natürlich verbunden mit der schon früher entwickelten nationalen Kultur. „Die deutsche Kulturnation“ war seine oft benutzte Bezeichnung für jene durch Bildung verbundene deutsche Gemeinschaft noch vor Beginn der politischen nationalen Bewegung, an dessen Ende die deutsche moderne Nation stand.
Immer wieder drehten sich unsere Diskussionen um den Begriff „Nationalismus“, wenn man hier überhaupt vom Begriff im eigentlichen Sinne sprechen kann. Hier schwankte und entwickelte sich seine Auffassung. Ursprünglich neigte er zum konventionellen Gebrauch dieses Terminus als einer (scheinbar neutralen) Bezeichnung für alles, was mit der Nation zu tun hat. Zugleich war er mit dem traditionell negativen Verständnis, so, wie ihn die alten Sozialdemokraten verwendet haben, vertraut und fand ihn gut begründet. Ich teilte eindeutig die zweite Meinung und es freute mich zu beobachten, wie er immer stärker zur Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus neigte, bis er sich für jene Unterscheidung entschied, so wie er es dann auch im ersten Kapitel seines erfolgreichen Buches „Nation und Nationalismus in Deutschland“ eindeutig formulierte und begründete.
Klar erinnere ich mich daran, wie er bei mir eines Tages Anfang der neunziger Jahre angerufen hat und im langen Telefongespräch seine schon ausgearbeitete Version dieser Unterscheidung Patriotismus und Nationalismus vorgestellt hat und mich dabei nach meiner Meinung fragte. Ohne die genaue Absicht seines Anrufs zu kennen, habe ich ihm, vielleicht mit einigen Einwänden, zugestimmt. Nach zwei, drei Jahren, als er mir sein Buch schickte, war der Sinn seines Telefonats klar. Später erzählte er mir bei einer unserer Begegnungen, dass er lange zögerte, ob er das erste Kapitel seines Buches dieser Begrifflichkeit widmen sollte und dass er sich durch das Gespräch mit mir in seiner Auffassung bestätigt fühlte. Ich war da wohl nicht der einzige, der seine Meinung teilte.
Die Publikation dieser nonkonformen Unterscheidung hat ihm allerdings Kritik von ziemlich einflussreichen Kollegen gebracht, die er eher gelassen, ohne Aufregung kommentierte. Im Gegensatz zu seinen Kritikern, von denen ich einen persönlich erlebte, als ich als Professor am EUI in Florenz lehrte. Da äußerte sich Dieter Langewiesche ziemlich emotional gegenüber diesem „Unsinn“, den so einige Historiker verbreiten, „als ob es einen guten und einen schlechten Nationalismus gäbe“. Und es war klar, dass ich in dieser Frage mit Otto auf der gleichen Barrikadenseite stehen würde.
Augenscheinlich war Herr Langewiesche nicht der einzige, der Ottos und meine Gemeinsamkeit registrierte. Davon zeugt eine Episode aus dem deutschen akademischen Klatsch, die ich erst erfuhr, als sie sogar in Prag kolportiert wurde und publiziert war. Nachdem fast vor zehn Jahren eine mir unbekannte Frau von Hirschhausen im H-Net eine ziemlich unfaire Kritik (übrigens die einzige dieser Art) meines Buches (Das Europa der Nationen) veröffentlicht hatte, soll man es in gewissen (jüngeren) deutschen akademischen Kreisen als eine indirekte Attacke auf Otto Dann interpretiert haben, als ihre „Entgeltung“ dafür, dass er ein von ihr publiziertes Buch kritisch rezensiert hatte. Ich verkaufe, wie ich gekauft habe. Als ich Otto dazu fragte, hat er zurückhaltend reagiert, wollte sich weder zur Person, noch zur Sache äußern: Überlegungen und Vermutungen dieser Art waren in seinen Augen etwas, was unter dem Niveau akademischer Würde liegt. Diese Noblesse, mit der er über seine Gegner beziehungsweise über Leute, die er nicht schätzte, äußerte, hat mir – nicht nur in diesem Fall – imponiert.
Irgendwie steht vor mir die Persönlichkeit Otto Danns als ein lebendiges Beispiel für die Anwendbarkeit seiner Termini. Er war seiner Nation ergeben, war stolz auf den deutschen Föderalismus, auf die Kulturleistungen der Weimarer Klassik, auf die Ausstrahlung und Inspiration deutscher Kultur im Ausland. Und trotzdem würde ich ihn nie als “Nationalisten“ betrachten. Er repräsentierte in meinen Augen den deutschen Patrioten im eigentlichen Sinne des Wortes, ebenso, wie ich mich für einen tschechischen Patrioten halte. Vielleicht stand er mir auch aus diesem Grunde so nahe.