Mit verlassenen Städten – genauer, dem Leben in Ruinen, beschäftigt Prof. Dr. Karen Radner sich in ihrem aktuell von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt. Gemeinsam mit Dr. Jamie Novotny, versucht sie herauszufinden, wie es den Babyloniern erging, als sie Teile ihrer ehemals stolzen Metropole allmählich aufgeben mussten. Als Grundlage dienen hierfür unter anderem umfangreiche Keilschriftquellen. Wir haben der Wissenschaftlerin im Rahmen unserer neuen Interviewreihe, die Projekte aus dem Sonderprogramm "Lost Cities" portraitiert, unsere Fragen gestellt.
"Im antiken Babylonien wurden Gebäude vor allem aus ungebrannten Lehmziegeln errichtet"
L.I.S.A.: Sehr geehrte Prof. Radner, Sie arbeiten an einem Forschungsprojekt, das im Rahmen des Sonderprogramms Lost Cities der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. Könnten Sie kurz erläutern, worum es in Ihrem Projekt geht? Warum ist es wissenschaftlich relevant, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Prof. Radner: Unser Projekt heißt „Leben in Ruinen: Erfahrungen mit verlassenen Städten in Babylonien“. Eines der Ziele ist es, exemplarisch die städtische Entwicklung der Stadt Babylon nach ihrer Zeit als strahlender Weltstadt im 6. Jahrhundert v. Chr. zu untersuchen. Als der römische Kaiser Trajan Babylon im Jahr 116 n. Chr. besuchte, war er sehr enttäuscht. Wir stellen die Frage: Woran lag das? War die Stadt tatsächlich eine Ödnis, oder hatte Trajan vielleicht auch übersteigerte und unrealistische Erwartungen? Die Palast- und Wehrbauten Babylons waren ja hochberühmt und Teil der damals populären Weltwunderlisten. Im antiken Babylonien, das im heutigen Südirak liegt, wurden Gebäude vor allem aus ungebrannten Lehmziegeln errichtet. Wer den Lebenszyklus von Lehmziegelarchitektur kennt und weiß, dass dieses Material immer wieder erneuert werden muss, reagiert ganz anders als jemand, der z.B. an Steinbauten gewöhnt ist. Dass die Sichtweise von Außenseitern (z.B. auch den westlichen Forschenden, die seit dem 18. Jahrhundert Babylonien bereisten) oft eine andere ist als die der Einheimischen, lässt sich mit diesem Thema sehr gut zeigen. Ob den Lebensumständen im Irak der Umstieg von Lehmziegel auf Beton im 20. Jahrhundert unbedingt nur gutgetan hat, kann man durchaus kritisch sehen. Wenn wir für unser Ausgrabungsprojekt in der kurdischen autonomen Region des Iraks vor Ort sind, halte ich mich jedenfalls lieber im Lehmziegelgebäude des Gästehauses der Antikenverwaltung in Sulaymaniyah auf als in unserem Grabungshaus in Qaladze, dessen Beton- und Glasarchitektur den klimatischen Bedingungen weder im Winter noch im Sommer gerecht wird.
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