Die Semantik des Begriffs Netz ist im Zuge des digitalen Wandels um einen neuen Zweig erweitert worden. War das Netz zuvor vor allem an Dinglichkeit gebunden - Spinnennetze, Fischernetze oder Verkehrs- und Kanalnetze - ist es seither zusätzlich mit der virtuellen Welt beispielsweise der Sozialen Netzwerke verknüpft. Der Historiker Dr. Sebastian Gießmann hat in seiner Dissertationsarbeit die Kulturgeschichte von Netzen und Netzwerken untersucht, die zuletzt unter dem Titel Die Verbundenheit der Dinge erschienen ist. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Netzwerke als soziale Relationen und dynamische Kooperationsformen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Gießmann, Sie beschäftigen sich mit Netzen und Netzwerken und haben darüber jüngst ein Buch geschrieben – „Die Verbundenheit der Dinge“. Netz und Netzwerk klingt fast synonym, ist es aber nicht, oder? Haben Sie Beispiele für den Unterschied?
Dr. Gießmann: Wir haben im Deutschen die wunderbare Möglichkeit zur sprachlichen Differenzierung zwischen „Netzen“ als physischen Objekten, dem „Vernetzen“ als Praxis und dem „Netzwerk“ als relationaler Form kulturellen Austauschs. Einer der Ausgangspunkte für meine Arbeiten zur Netzwerkgeschichte war die Beobachtung, dass noch in den großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, etwa Krünitz’ Oekonomischer Enzyklopädie, Zedlers Universal-Lexicon oder der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert, Netze vorwiegend als materielle Objekte verstanden wurden – dinglich und fassbar, als Spinnen- und Fischernetz, als architektonische Form (beim Netzgewölbe) oder beobachtbare Struktur lebendiger Körper (etwa in Marcello Malpighis Mikroskopien der Lungenkapillaren von Fröschen). Mitunter waren Netze als textile Objekte und materielle Strukturen sprachgeschichtlich schon früher als „networke“ bezeichnet worden – in der „Verbundenheit der Dinge“ zitiere ich ein Gedicht von Shakespeares Zeitgenossen Edmund Spenser aus dem Jahr 1591. Aber diese frühe englische Wortwahl entspricht noch nicht unserem heutigen Verständnis von Netzwerken als sozialen Relationen und dynamischen Kooperationsformen in vernetzten Räumen. Meine Vermutung war, dass im Laufe von Aufklärung und Industrialisierung eine Ablösung der Netzsemantik vom dinglich fassbaren Objekt hin zum „Netzwerk“ stattfindet, so dass es im Grimm’schen Wörterbuch von 1889 kurz und knapp als „etwas Netzartiges“ bezeichnet wird.
Der Schlüssel für diese Bewegung von Objekten zu „Quasi-Objekten“ ist im Buch ein infrastrukturhistorischer. Mit der Adressierung von Räumen über materielle Kommunikationsnetze veränderte sich die Netzsemantik: hin zu vernetzten Städten, territorialen Räumen und westlichen Gesellschaften, die sich Stück für Stück als „vernetzt“ begreifen. Man kann hierfür weit in die Frühe Neuzeit zurückgehen, aber die Wende zu den makrotechnischen Infrastrukturen (Straßen, Kanälen, Eisenbahnen, Telegrafen) als Netzen ist vor allem integraler Bestandteil der Industrialisierung. Entscheidend für unser heutiges Verständnis ist gerade die – eigentlich unmögliche – „Ablösung“ vom physischen Netz, hin zu sozialen Netzwerken, deren Materialität sich durch die Interaktion bildet.