L.I.S.A.: Netze und Netzwerke verbinden. Das leuchtet sofort ein. Aber wie steht es um die Lücken im Netz beziehungsweise um das Durchs-Netz-Fallen? Gibt es auch diese Geschichte in Ihrem Buch? Gibt es sozusagen auch ein Negativ von Netzen?
Dr. Gießmann: Das sind schwer zu beantwortende Fragen, weil sie die Grenzen von Netzwerken betreffen, also einer Kulturtechnik, die vor allem auf Verbindungs- und Verknüpfungspraktiken beruht. Zunächst machen ja gerade die Zwischenräume, die vom Netz umfasst werden, den Reiz des Diagramms mit aus. Für die Moderne kann man zudem sagen: Gerade die Erweiterungsfähigkeit und Störungsresistenz verteilter infrastruktureller Netze wurde zum Modell, auch für soziale Netzwerke. Das Negativ dieser technischen Netze wäre der Zusammenbruch, oder in der Hackersprache ein Abschmelzen, ein „network meltdown“ als maximaler Störfall. Etwas weniger drastisch formuliert gehe ich mittlerweile davon aus: Reparaturen der Netze und Netzwerke sind der Normalfall. Es wird ständig geflicktschustert und repariert, analog und digital, technisch und sozial. In der „Verbundenheit der Dinge“ habe ich jedoch nach einer Erzählung gesucht, mit der trennende und auch sozial prekäre Momente von Netzwerken als Kulturtechnik in den Blick rücken. Das zehnte Kapitel handelt deshalb von Verschwörungstheorien, die das Handeln mit und durch Netzwerke aus Außenseiterpositionen beobachten. Der einzelne, nicht oder wenig vernetzte paranoische Outsider ist eine der Figuren, die sich der netzwerkförmigen Handlungsmacht zu entziehen versucht. Tatsächlich ist der Aufstieg der Verschwörungstheorien im 19. und 20. Jahrhundert für mich die folgerichtige, selten bedachte Kehrseite von Netzwerkgesellschaften und ihren demokratischen Öffentlichkeiten. Dies gilt auch für negative Dynamiken und eine verquere Meinungsbildung in digitalen sozialen Netzwerken. Es existiert, wie die Anthropologin Marylin Strathern vielleicht bisher am deutlichsten bemerkt hat, eine konzeptuelle Grenze des Netzwerkbegriffs, mit dem das Trennende in der Regel nicht gut verstanden werden kann. Eigentumsansprüche, juristische Regeln, aber auch die Neuordnung sozialer Netzwerke durch einschneidende Ereignisse wie Todesfälle und Unglücke sind nicht netzwerk-immanent, sondern können dieses zerschneiden. Es gibt also immer ein Außen des Netzwerks, es gibt immer eine politische Ökonomie, die Verbindungen kappt.
Ich würde auch davor warnen, mit dem „Netzwerk“ alles verstehen oder nur noch im Netzwerk handeln zu wollen. Denn auch Kulturtechniken, die zur Epochensignatur taugen, sind historisch spezifisch. Als „Theorie über alles“ würden Netzwerke verabsolutiert, und als allgemeine Handlungsanweisung eine stark ökonomisierte, wenn nicht gar neoliberale Version gesellschaftlichen Austauschs befördern. Wir brauchen also kleine, partikulare Netzwerktheorien und -praktiken. Die großen wenden Geheimdienste und die Werbenetzwerke des Internets ohnehin an.