Zum ersten Mal organisieren die Bibliothèque royale de Belgique (KBR) und die Bibliothèque nationale de France (BnF) eine gemeinsame Ausstellung zur Buchmalerei aus der Zeit der burgundischen Herzöge. In Brüssel startete das ambitionierte Ausstellungsprojekt am 30. September und wird ab dem 06. März 2012 in Paris mit einer etwas anderen Auswahl der Ausstellungsexponate fortgesetzt.
Die Ausstellung beginnt mit einem eigenständigen Bereich zur historischen Einführung in die Zeit der Burgunderherzöge und stellt auch die Produktionsbedingungen der reich überlieferten Buchmalerei der Zeit zwischen 1404 und 1482 (Todesjahr von Maria von Burgund, einzige Tochter Philipps des Kühnen) dar. Beim ersten Blick in die Vitrinen könnte man sich aber auch, anstatt sich auf die historische Dokumentation der burgundischen Buchmalerei einzustellen, zuerst an ein ganz anderes Paradox heranführen lassen: Jeffrey Hamburger hat jüngst einen Beitrag zur Doppelseite in der mittelalterlichen Buchmalerei veröffentlicht (Ouvertures – La double page dans les manuscrits enluminés du Moyen Âge, Lyon 2010), der mit einer Reflexion über den tiefgreifenden Wahrnehmungswandel des Buches in Zeiten des Amazon Kindle beginnt. Hamburger sieht dort eine inhaltliche und symbolische Einheit im Buch, in der sich ein entscheidender Aspekt der mehrschichtigen Interpretationsebene mittelalterlicher Bildwelten entfaltet. In Brüssel wird dem Besucher der Wahrnehmungskonflikt als Grundgedanke unfreiwillig praktisch vor Augen geführt: Denn anstelle einfacher Schilder hat jedes aufgeschlagene Buch sein eigenes kleines iPad, das in seinem individuellen Rhythmus zwei- bis dreiseitige Beschreibungstexte vor sich hinblättert und den ungeduldigen Besucher auf die Probe stellt, den neugierigen gar zu einer ausgedehnten Reflexion über die Funktionsweise der knopflosen Bildschirme verführt, da man ja nur zu gern wissen möchte, was die kleinen Pads alles offenbaren, wenn man nur lang genug darauf wartet.
Neben historisch interessanter Tafelmalerei, Bucheinbänden, Rechnungsdokumenten, Wappenbüchern und Objekten zur Herstellung von Handschriften finden sich in diesem vorbereiteten Teil der Ausstellung herausragende Kupferstiche des Spielkartenmeisters, ein Valerius Maximus mit lavierten Federzeichnungen vom Meister des Dresdner Gebetbuchs (Paris, BnF, Rés. Z. 200-201) und ein Folge von kleinen Kalenderblättern in der Nachfolge des Breviarium Grimani.
Selten gibt eine Buchmalereiausstellung die Gelegenheit, die Handschrift in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und eine aufgeschlagene Doppelseite kann oft nicht mehr als zu dem drängenden Wunsch führen, gerade bilderreiche Dichtungen oder Historienzyklen auch blättern zu wollen. Eine besondere Freue also kann es dem Besucher sein, wenn er alle Doppelseiten zweier wunderbarer Bilderhandschriften zu Beginn des zweiten Teils der Ausstellung begutachten kann: das farbenprächtige Livre du roy Modus et de la royne Ratio vom Meister des Girard de Roussillon (KBR, Ms. 10218-19) und der atemberaubende Gérard de Nevers (KBR, Ms. 9631) vom Wavrin-Meister, dessen lavierte Federzeichnungen von einer beispiellosen Expressivität um 1450/60 ganz exklusiv die chevaleresken Romane Jean Wavrins – geschrieben für den burgundischen Hof und voller überraschend frischer, direkter und leicht frivoler Bilderfindungen – zieren.
Von der Präsentation der Doppelseiten, die dem aufmerksamen Besucher noch einmal vor Augen führt, dass ein isoliertes Bifolio eben nicht wie ein Tafelbild an die Wand gehängt werden kann, ohne eine aufregende Konfusion der Leserichtung zu erzielen, gelangt man nun in den eigentlichen Hauptteil der Brüsseler Ausstellung.
In der Nassau-Kapelle, dem letzten Überrest der alten Residenz der Grafen von Nassau, reihen sich dann die Schätze der burgundischen Buchmalerei, wenn auch der Kampf mit den Räumlichkeiten in der Präsentation der Handschriften spürbar wird – denn eine andere als die chronologische Abfolge in aneinandergereihten Vitrinen, auf die der Besucher selbst kommen muss, erlaubt der langgestreckte Kapellenbau bedauerlicherweise nicht.
Die voreyckische Malerei vor dem Meister des Guillebert de Mets (bemerkenswert hier die Miniaturen des Epistre d’Othéa, KBR, Ms. 9559-64 und die Stundenbücher von diesem Meister) und dem Goldrankrenstil wird mit nur drei Handschriften erläutert, die aber in ihrer hohen Qualität viel von den künstlerischen Voraussetzungen in Flandern zu vermitteln vermögen; am deutlichsten die großen Miniaturen der Pèlerinages des Guillaume de Digulleville (KBR, Ms. 10176-8) aus dem Besitz Philipps des Guten. Ein Blick in den umfangreichen Katalog lässt nebenbei vermuten, dass dieser Teil in Paris mit der einzigartigen flämischen Apokalypse (BnF, Ms. neerl. 3) komplettiert werden soll, die zu den großartigsten eschatologischen Bildvisionen des Spätmittelalters gehört; die eyckische Malerei wird dann durch Augustinus’ Cité de Dieu aus dem Besitz des Jean Chevrot vertreten (KBR, Ms. 9015), das in der Diskussion um die Malerhände am Turin-Mailänder-Stundenbuch immer wieder eine wichtige Rolle spielt.
Die Chronique de Hainaut mit dem bedeutenden Frontispiz von Rogier van der Weyden (KBR; Ms. 9242) erscheint zwar in der im Foyer laufenden Bilderschau, in der Ausstellung aber muss sich der Besucher mit zwei sehr berühmten Nachfolgearbeiten begnügen: dem Frontispiz des Gouvernement des princes (KBR, Ms. 9043) vom Meister der Genter Privilegien und dem sehr lebendigen Frontispiz der Histoire d’Alexandre (BnF, Ms. fr. 9342), beide zwischen 1448 und 1450/52 entstanden.
Ein genüsslicher Höhepunkt sind die Miniaturen von Jean le Tavernier, favorisierter Maler von Philipp dem Guten, der ab 1460 in den herzoglichen Rechnungsbelegen erscheint und die Handschriften für den Herzog größtenteils in Oudenaarde illuminiert hat. Die berühmten Grisaillen der Miracles de Notre-Dame von Jean Miélot (BnF, Ms. fr. 9198) und die zwei Übersetzungen vom selben Kanonikus mit den zart in Pastelltönen kolorierten Zeichnungen, die zu den feinsten Miniaturen der Zeit um 1450 zählen (Débat d’honneur, KBR, Ms. 9278-80 und Advis directif pour faire le passage d’Outremer, KBR, Ms. 9095). Ein besonderer Spaß ist auch das Frontispiz des Traité de l’oraison dominicale (KBR, Ms. 9092), das Philipp den Guten vor seinem eigenen Bild bei der Messfeier zeigt und von hier aus zu den Bildnissen des Herzogs in seinem eigenen Stundenbuch führt, dass aber in Den Haag (KB, 76 F 2) aufbewahrt und deshalb nicht gezeigt wird.
Über Willem Vrelants blaugrundige Grisaillen (Première guerre punique, KBR, Ms. 10777) und dem erstaunlich schönen Miroir historial für Louis de Gruuthuse (BnF, Ms. fr. 308) und Loyset Liédet, die einen gemäßigten, glatten Stil der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts während der späteren Regierungszeit Philipps des Guten und des jungen Karl dem Kühnen vertreten, gelangt der Besucher zum einzigen Beispiel der Kunst des erstaunlichen Wiener Meisters der Maria von Burgund: einer Miniatur von der Hand des Malers in einem Alexanderroman für Karl den Kühnen (Faits et gestes d’Alexandre, BnF, Ms. fr. 22547), den sonst Miniaturen von Loyset Liédet zieren. Dieses Gegenüberstellung gehört zu den kraftvollsten Momenten der Ausstellung, der in der fast unkommentierten Fülle beinahe untergeht.
Mit Liévin van Lathem und dem ganz anders temperierten Meister der Margarete von York, der mit dem Frontispiz des Traité du crime de vauderie (Bnf; Ms. fr. 961), einem Traktat gegen die Waldenser, eine ganz erstaunlich lebendige Frischer erreicht, gelangt der Besucher zu einem weiteren Höhepunkt in der burgundischen Buchmalerei: dem Meister Antons von Burgund, zu dessen Spezialitäten eine ausgesprochen atmosphärische Umsetzung indirekter Beleuchtung in den Miniaturen zählt, wie es der Besucher an dem Pariser Froissart (BnF, Ms. fr. 2646) überprüfen kann: Aufgeschlagen hat man den bal des ardents, jener verhängnisvolle Kostümball im Jahre 1393, als die Kostüme Karls des VI. und einiger junger Edelmänner vermutlich aufgrund eines Unfalls in Flammen aufgingen. Allein der junge König wurde im Rocksaum der Herzogin von Berry geborgen und damit gerettet; ganz unwirklich wird die nächtliche Szene beim Meister des Anton von Burgund durch die brennenden Kostümierungen im Zentrum beleuchtet.
Mit Werken des Meisters der Weißen Inschriften, Jean Miélot und dem Wavrin-Meister endet die Ausstellung in der Zeit Simon Marmions. Warum die prachtvollen sept âges du monde (KBR, Ms. 9047) in der einzigen exponiert aufgestellten Vitrine liegen, das historisch wie künstlerisch bedeutende Pontifikale der Kathedrale von Sens (KBR, Ms. 9215) aber in einer Ecke verschwindet, wird dann zum Ende der mit Prachtstücken angefüllten Ausstellung nicht recht klar.
Den umfangreichen Katalog (463 S.), der einen sehr ausführlichen chronologischen Überblick über die Maler der burgundischen Herzöge und deren Werke gibt, glänzt mit detaillierten Beschreibungen. Ärgerlich ist es dann doch, dass der Leser nicht erfährt, welche Handschriften wo zu sehen sind. Es verwundert auch, dass man trotz des wissenschaftlichen Anspruchs der Publikation auf eine umfangreiche Bibliographie zu den einzelnen Werken verzichtet und sich mit einer „bibliographischen Orientierung“ begnügt, die selten mehr als drei Publikationen zum Objekt umfasst. Zu bedauern ist auch die Reproduktionsqualität der künstlerisch herausragenden Werke. Aufpoliert und stark kontrastiert leuchten alle Bilder in gleicher schillernder Farbigkeit und scharfer Kontur - wie man es von den Reproduktionen flämischer Buchmalerei gewohnt ist - werden aber den tatsächlichen verschiedenartigen Ausprägungen des malerischen Charakters nicht gerecht.
Den Katalog wird der Besucher aber ohnehin zur Hand nehmen müssen, wenn er aus der Brüsseler Ausstellung mehr als nur einen Eindruck der prachtvollen Schätze der Burgunderbibliothek mitnehmen will; denn man hat trotz der Experimentierfreude mit den Objektschildern wenig für die nachvollziehbare Vermittlung des Ausstellungskonzepts oder zur Erläuterung der gezeigten Werke installiert. Auf erklärende oder leitende Hinweise zur Präsentation der Bücher, die den Besucher über die Auswahl oder Anordnung der Handschriften in den gut gefüllten Vitrinen informieren, hat man fast vollständig verzichtet. Ohne ein gewisses Maß an Vorkenntnis erklärt sich weder der Entstehungszeitraum der Werke noch deren Chronologie, die für einen didaktischen Gang durch die sehr reiche Ausstellung eigentlich sinnvoll wäre.
Es bleibt zu erwarten, wie die Stücke zu Beginn des nächsten Jahres dem Pariser Publikum präsentiert werden; für wen man in Brüssel nun eigentlich die den ersten Teil versammelter Pacht der burgundischen Buchmalerei in den Vitrinen aufgereiht hat, bleibt offen.
Das Buch im Film
Begleitet von etwas schwellender Choralmusik, die immer dann ernstlich im Hintergrund tönt, wenn man Bilder des Mittelalters über den Bildschirm flackern sieht, haben die Organisatoren einen optisch überzeugenden Werbefilm gedreht, der die Besucher der Brüsseler Ausstellung zugleich auf zwei weitere Ausstellungen in Louvain und Gent aufmerksam machen soll. Die farbstarken und gestochen scharfen Nahaufnahmen der Handschriften überzeugen in ihrer Realitätsnähe und es fragt sich hier, ob die entwickelte Kameratechnik gar nun reif genug ist, die Präsentation von mittelalterlicher Buchmalerei mit der Notwendigkeit ihrer Konservierung zu versöhnen.
Die Bibliothèque nationale in Paris verfolgt sein einigen Jahren eine Vortragsreihe zu den Trésors du patrimoine écrit, zu deren Vorträgen kurze Filme entstehen, in denen sich Stellungnahmen von Wissenschaftlern mit Filmsequenzen der geblätterten Handschriften abwechseln und auf eine atemberaubende Weise ist der Zuschauer hier dem Objekt fast näher als durch die statische Reproduktion eines Fotos oder eines Volldigitalisats. Für die Vermittlung von Buchmalerei an eine breitere Öffentlichkeit liegt in der neuen Filmtechnik eine große Chance. Denn wie könnte man die ganze Pracht illuminierter Handschriften besser vermitteln als durch das bewegte Bild, das gleichsam den intimen Blick über dem geblätterten Buch in optisch überzeugender Qualität einfangen kann?
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Die Ausstellung in Brüssel läuft vom 30. September – 30. Dezember 2011 und wird vom 06.-März – 10. Juni in der Bibliothèque nationale de France in Paris gezeigt werden.
Begleitet wird das ambitiöse Projekt von einem vielversprechenden Forschungskolloquium in Brüssel (16.-18. November 2011) zu Neuen Perspektiven in der flämischen Buchmalereiforschung.
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Im Text auf Ihrer homepage zur Ausstellung minatures flamandes hat sich ein Fehler eingeschlichen..... Maria von Burgund ist die Tochter von Karl dem Kühnen und nicht von Philipp dem Kühnen!
Liebe Grüße, Brigitta Pansy-Kunesch