Spricht man heute vom Kosovo, denkt man in erster Linie an den Kosovokrieg vor mehr als zwanzig Jahren. Eine der Folgen dieses internationalen Konfliktes war die schrittweise Loslösung des Kosovo als ehemals autonome Provinz Serbiens aus dem serbischen Staatsverband. 2008 erklärte sich Kosovo für unabhängig. Weniger bekannt ist indes die Geschichte des Kosovo als Teil Jugoslawiens, die sich nicht nur als Vorgeschichte des Kosovo-Konfliktes in den 1990er Jahren liest. Der Südosteuropa-Historiker Dr. Robert Pichler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften forscht und publiziert seit Jahren zur neueren Geschichte des Balkans, zuletzt zur Geschichte des Kosovo im Jugoslawien der 1980er Jahre. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Kosovofrage im gesamtjugoslawischen Kontext beleuchten"
L.I.S.A.: Herr Dr. Pichler, Sie sind Experte für die Geschichte Südosteuropas und forschen schon seit langem unter anderem zum Kosovo. Jüngst ist in der Zeitschrift Comparative Southeast European Studies eine Ausgabe zum Thema Kosovo im Jugoslawien der 1980er Jahre unter anderem unter Ihrer Regie erschienen. Warum dieses Thema zu diesem Zeitpunkt? Was macht den Kosovo wieder aktuell?
Dr. Pichler: Für uns Historikerinnen und Historiker, die wir diese Doppelnummer der Zeitschrift Comparative Southeast European Studies gemeinsam herausgegeben haben, ging es nicht um die tagespolitische Aktualität, sondern um Desiderata der zeitgeschichtlichen Forschung, als wir uns diesem Thema zugewandt haben. Wir sehen, dass das Gros der Forschung zu Kosovo sich auf die 90er Jahre, auf den Zerfall Jugoslawiens und den Krieg fokussiert. Und dann gibt es auch viel Forschung über die Folgen des Krieges, die ungelöste Statusfrage, die Prozesse der Staatsbildung, die Rolle der internationalen Akteure, etc. Wir wollten aber einen Schritt zurückgehen und die 1980er Jahre ins Visier nehmen, weil diese Periode für das Verständnis der Entwicklungen, die zur Eskalation des Konfliktes führten, essentiell ist.
Unser Hauptanliegen war es aber, die Kosovofrage im gesamtjugoslawischen Kontext zu beleuchten. Uns interessierten die Erschütterungen, die die Krise in Kosovo in den anderen Republiken auslösten, wie diese Krise, die 1981 begann, andernorts wahrgenommen und verhandelt wurde und welche Dynamiken dadurch ausgelöst wurden, sowohl innerhalb und zwischen den Republiken, als auch im Verhältnis zum Bundesstaat. Daran schlossen sich viele weitere Fragen an, Fragen, die die Architektur des Staates betreffen, die ideologische Ausrichtung, die Auseinandersetzungen zwischen jenen, die auf fortgesetzte Dezentralisierung drängten und anderen, die darin eine Gefahr für die staatliche und nationale Einheit sahen. Wir wollten Aspekte der Auseinandersetzungen beleuchten, die bisher kaum zur Sprache gekommen waren, wie etwa das albanische feministische Engagement, oder die Implikationen der Krise auf die Beziehungen innerhalb maßgeblicher akademischer und kultureller Institutionen. Darüber hinaus war es uns wichtig, neben etablierten Forscherinnen und Forschern auch jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus der Region, die hervorragende Forschung machen, eine Publikationsplattform zu bieten.